In den USA schoss der Titel beim Onlinehandel Amazon auf Platz eins. Mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ geht der Autor Thomas Piketty der Klassengesellschaft auf den Grund.

Stuttgart - Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa. Es ist rund 700 Seiten stark, ein Wirtschaftsbuch, und immer häufiger hört man von Leuten, die andere kennen, die es gerade lesen oder lesen wollen oder die zumindest eine Rezension darüber irgendwo gesehen oder wenigstens den Namen des Autors aufgeschnappt haben. Fast alle haben auch schon eine Meinung dazu, wenn sie hören, worum es geht. Wahrscheinlich wird keiner mehr die deutsche Übersetzung von „Le capital au XXIe siècle“ kaufen, die 2015 erscheinen soll – bis dahin hat sich die Welt ohnehin schon in Pikettisten und Anti-Pikettisten geteilt, und es wird völlig irrelevant sein, ob man das Buch gelesen hat oder nicht.

 

Was geschieht da also gerade? Da schreibt ein 43-jähriger französischer Ökonom ein Buch über die langfristige Entwicklung von Einkommen und Vermögen im Kapitalismus, nennt das Ganze nicht uneitel „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ und wird über Nacht zum Popstar und/oder zum neuen Marx. Nobelpreisträger preisen sein Werk, andere sprechen schon von der Zeitenwende im Nachdenken übers Ökonomische. In den USA ist das – gewiss nicht als Bettlektüre geeignete – VWL-Buch bei Amazon auf Platz 1 gelandet und seit Tagen ausverkauft.

Die Welt ist so ungerecht, wie wir immer geglaubt haben

Irgendwas muss Thomas Piketty, der 43-jährige Wirtschaftswissenschaftler von der École d’économie de Paris, folglich richtig gemacht haben. Für einen aus seiner Zunft ist solch ein Bestsellererfolg ein eher seltenes Ereignis. Aber die Zeiten sind danach. Die totgeglaubte Verteilungsfrage ist zurück: Wer bekommt wie viel – und vor allem warum? Passt das alles zusammen mit dem Versprechen der Leistungsgerechtigkeit, mit dem wir bisher in der Marktwirtschaft über die Ungleichheit hinweggetröstet werden? Wenn der Papst twittert, dass Ungleichheit die Wurzel des sozialen Bösen sei, und selbst der Internationale Währungsfonds die ungleiche Verteilung des Wohlstands als Problem erkannt hat, dann ist es höchste Zeit, in die Asservatenkammer des Kapitalismus zu steigen und die Beweismittel zu sichten.

Das hat Thomas Piketty getan. Was er dabei herausgefunden hat, erschüttert unseren Glauben, dass jeder im Grunde eine Chance hat, einmal zu den Gewinnern im Kapitalismus zu gehören. Vielleicht bestätigt es aber auch nur den ohnehin gehegten Verdacht, dass die Welt genauso ungerecht ist, wie wir sie immer erlebt haben.

Konkret macht Piketty dies an einer griffigen Formel fest – „r > g“ –, die auch für Nichtökonomen das Übel verstehbar macht. Weil die Kapitalrendite („r“) in der Regel höher ist als das Wirtschaftswachstum („g“), vermehrt sich der Reichtum der Reichen selbst in Zeiten, in denen die Lohnabhängigen wegen schlappen Wirtschaftswachstums auf der Strecke bleiben. Je größer der Abstand zwischen r und g, desto stärker die Konzentration des Wohlstands bei denen, die ohnehin schon reichlich haben. Eine deprimierende Aussicht angesichts der lauen Wachstumserwartungen der Gegenwart und richtig düster in einer alternden Gesellschaft, in der Wachstum endgültig ein Fremdwort sein dürfte.

Zeiten sozialer Gleichheit sind die Ausnahme

Doch mehr noch als diese theoretischen Überlegungen ist es die beeindruckende Datenbasis, die „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ tatsächlich zu einem „game changer“ machen könnte. Piketty hat die Entwicklung von Einkommen und Vermögen in Amerika und Europa in den vergangenen 300 Jahren analysiert und dabei den Kapitalismus vom Kopf wieder auf die Füße gestellt: Der Kapitalismus schafft danach eben nicht Chancen für die vielen, sondern er konzentriert diese Chancen bei wenigen, die ihren Reichtum mehren und dann in der eigenen Sippe vererben. (Für hohe Topmanager-Vergütungen hat Piketty übrigens auch eine Erklärung, die jedoch auch nichts mit Leistungsgerechtigkeit oder Produktivität zu tun hat: Selbstbedienung.) Unsere Hoffnung, dass wir es  durch eigenen Verdienst ebenfalls zu Reichtum bringen könnten, wird also im Kapitalismus in der Regel enttäuscht. Zeiten größerer sozialer Gleichheit wie die von 1914 bis in die 1970er Jahre sind historische Ausnahmen.

Womit wir in der Gegenwart sind. Tatsächlich erleben wir seit einigen Jahrzehnten eine Zunahme der Ungleichheit bei den Einkommen und Vermögen. Für Piketty ist das kein Ausrutscher der Marktwirtschaft, sondern klares Anzeichen, dass wir uns wieder in Richtung von Verteilungsverhältnissen bewegen, die es schon Anfang des 20. Jahrhunderts gab, als die oberen zehn Prozent der Bevölkerung 90 Prozent des Volksvermögens besaßen. Mit allen unappetitlichen politischen und ökonomischen Nebenwirkungen – aus der Demokratie der vielen könnte langsam eine Oligarchie der wenigen werden und aus dem Kapitalismus eine träge Veranstaltung auf der Basis vererbter Vermögen.

Damit es nicht so weit kommt, schlägt Piketty vor, für hohe Einkommen und Vermögen die Steuerschraube kräftig anzuziehen, und zwar am besten weltweit. Das ist natürlich – das weiß auch der Autor – eine Utopie. Trotzdem ist es gerade diese globale Kapitalsteuer, auf die sich der oberflächlichere Teil seiner Kritiker besonders stürzt – als ob der Kapitalismus wieder strahlender erscheinen könnte, wenn man den Überbringer schlechter Nachrichten wenigstens „linker Steuerfantasien“ zeihen kann. Andere dagegen bezweifeln schon die Grundannahme des Buchs, dass wachsende Ungleichheit wirklich so dramatische Folgen haben muss.

Schönheitsfehler im Glaubenssystem

Aber die vielleicht schwerwiegendste Kritik kommt von einer Seite, die der von Piketty gar nicht so fern steht: Was, so fragt der Ungleichheitsforscher James K. Galbraith, versteht denn Piketty eigentlich genau unter „Kapital“? Tatsächlich stiftet Piketty hier Verwirrung, weil er so gut wie alles erfasst, was einem gehören kann und einen Marktpreis hat. Zwischen produktivem Realkapital und reinen Vermögensanlagen (wie zum Beispiel Finanzanlagen) unterscheidet Piketty jedenfalls nicht – was anderen Kritikern der Finanzwelt als zu wenig differenziert erscheinen muss.

Doch um so viel Tiefenschärfe wird es bei der öffentlichen Rezeption des neuen „Kapitals“ kaum gehen. Denn wenn Pikettys Daten stimmen, dann zeigt er uns nicht nur einen Schönheitsfehler in unserem kapitalistischen Glaubenssystem auf, dann ist die meritokratische Idee der Marktwirtschaft tot und alle Beispiele für ihre Verwirklichung sind bestenfalls von anekdotischer Relevanz. Und das ist gravierender, als es die sinnfreie Debatte über eine weltweite Besteuerung der Reichen vermuten lässt. Ohne die Hoffnung, dass sich „Leistung lohnt“, und zwar auch langfristig, wird der Kapitalismus zum Feudalismus. Piketty macht diesen Verdacht mit seinem Buch und einer zugehörigen Datenbank überprüfbar. Darüber lässt sich nicht so ohne Weiteres hinweggehen.