Erst vor wenigen Monaten ist Zoran Drvenkars „Still“ auf den Markt gekommen. Jetzt erscheint ein gleichnamiger Krimi von Thomas Raab, ebenfalls ein Roman mit ziemlichem Thrill – wenn auch nicht ohne Risiken.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Österreich und seine Keller: Das Böse steckt im Souterrain. In der Realität – siehe Přiklopil, siehe Fritzl -, aber auch in der Fiktion: „Still“ heißt der Roman von Thomas Raab, in dem einem Keller ein Massenmörder entsteigt.

 

Erzählt wird die Geschichte von Karl Heidemann, einem Jungen, dessen außergewöhnliche Begabung für ihn und seine Umwelt zum Fluch wird. Karl hat ein unglaublich feines Gehör, jedes auch noch so leise Geräusch ist ihm Tortur. Aus diesem Grund bleibt seinen Eltern kein anderer Ausweg, als ihn zum eigenen Besten im halbwegs geräuschgedämmten Keller aufwachsen zu lassen. Nur dort hält es Karl aus, dort entwickelt er dank seines Gehörs übermenschliche Fähigkeiten.

Monströse Mischung aus Friedens- und Racheengel

Karl ist damit so etwas wie ein Idiot savant, ein literarischer Bruder von Oskar Matzerath und Jean-Baptiste Grenouille, die ebenfalls auf ihrem Lebensweg über mehr oder weniger viele Leichen gehen. Diese Abweichung von der Norm macht einen der Reize des Buches aus, es birgt aber auch gewisse Risiken. So versieht der junge Heidemann sein blutiges Handwerk – meist noch nicht einmal in übler Absicht – so umstands- wie mühelos. Das perfekte Töten ist ihm, dem verfetteten Kellerbewohner, zweite Natur. Was nicht passt, wird passend gemacht. Eine monströse Mischung aus Friedens- und Racheengel.

Ganz gewiss ist „Still“ – nicht zu verwechseln mit Zoran Drvenkars gleichnamigem Thriller – ein beeindruckendes, sprachgewaltiges Buch, das einen weiten dramaturgischen Bogen spannt. Es krankt aber ein bisschen daran, dass es von der Anlage her ein großer, großer Bildungsroman sein will, diese Absicht aber von wenig plausiblen Schlächtereien konterkariert wird. So streift der Autor immer wieder auch die Grenzen zum Schauermärchen und – Stichwort Liebesgeschichte – zur Kolportage. Nach dem vielen Tod kommt am Ende die Verklärung.

Detailliert gezeichnete Figuren

Die Stärken hingegen liegen klar auf der Hand: die Schilderung der bigotten Dorfgemeinschaft in Karls Heimat, die detailliert gezeichneten Figuren mit all ihren Schattierungen, nicht zuletzt die schwere Probe, der Karls Mutter in der Liebe zu ihrem einzigen Kind ausgesetzt ist. Diese Schilderung ist viel näher an der Realität – und damit an den emotionalen Rezeptoren der Leser – als beispielsweise die Passage, in der Karl, eigentlich geschwächt vom Vegetieren im Verlies, aus Hundeknochen zwei tödliche Messer macht. Nun ja.

Thomas Raab: „Still – Chronik eines Mörders“. Droemer, München 2015. 368 Seiten, 19,99 Euro. Auch als E-Book, 17,99: als Hörbuch-CD, ca. 17 Euro; und als Hörbuch-Download, ca. 15 Euro.