Der Direktor des Hauses der Geschichte, Thomas Schnabel, sieht den Protest gegen Stuttgart 21 auch kritisch.

Digital Desk: Anja Treiber (atr)
Stuttgart - Als Direktor im Stuttgarter Haus der Geschichte sieht Thomas Schnabel die Demonstrationen rund um Stuttgart 21 aus dem Blickwinkel des Historikers. Seine Forderung an Befürworter wie Gegner des Projekts: Verbales Abrüsten und Finger weg von unsinnigen historischen Vergleichen. Wenn Projektträger mit chinesischen Kommunisten gleichgesetzt werden oder die BRD als System auf dem Weg in eine Diktatur beschrieben wird, sei eine Grenze überschritten, sagt er.

Herr Schnabel, für einen Historiker ist der Besuch am Bauzaun Pflicht, oder?


Ja, das stimmt. Ich wohne zwar in Heilbronn, verfolge die Ereignisse in Stuttgart aber mit großem Interesse. Auch am Bauzaun bin ich regelmäßig.

Was sagt denn ein Mann vom Fach zu Plakaten, auf denen der Schlossgarten als "Stuttgarter Platz des Himmlischen Friedens" und der Bauzaun als "innerdeutsche Zonengrenze" bezeichnet werden?


Wenn ich solche Plakate sehe, bin ich entsetzt und fassungslos. An der ehemaligen Grenze sind hunderte Menschen erschossen worden. Wissen die Leute das nicht? Wo bleiben die Relationen? Auch über den Polizeieinsatz am 30.September im Schlossgarten kann jeder denken, was er will. Aber meines Wissens sind dort keine Panzer zum Einsatz gekommen, die über Unschuldige hinweggerollt sind. Es gab keine Militäreinheiten, die auf Befehl eines Diktators eine Demokratiebewegung niedergeschlagen haben, wie das in China 1989 der Fall war. Noch heute ist nicht endgültig geklärt, wie viele Menschen damals tatsächlich zu Tode gekommen sind.

Auf einem Plakat am Bauzaun steht: "DB-Grube verkündet die Notverordnung zum Schutz von Volk und Bahn".


Hier wird ganz klar eine Grenze überschritten. Dieser Satz spielt auf die sogenannte Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat an, die 1933 die Grundrechte in der Weimarer Verfassung ausgehebelt hat. Sie markiert die Beseitigung des Rechtsstaats und den Beginn des Dritten Reiches. Bei aller Kritik an Stuttgart 21 - das geht zu weit. Gerade die Protestbewegung zeigt doch sehr eindringlich, welche Chancen unsere Demokratie bietet. Die Demonstranten können ihren Unmut frei äußern. Es liegen doch Welten zwischen unserem demokratischen System und einer Diktatur wie dem Dritten Reich.

Warum werden solche Plakate geschrieben?


Zunächst möchte ich festhalten, dass solche Äußerungen nur von einzelnen gemacht werden. Über das Warum kann ich nur spekulieren. Vielleicht will man die Situation dramatisieren. Verunglückte historische Vergleiche sind ja nichts Neues: Helmut Kohl hat Michail Gorbatschow mal mit Goebbels verglichen. Willy Brandt nannte Heiner Geißler, der nun als allgemein anerkannter Schlichter wirkt, schon den schlimmsten Hetzer seit Goebbels.

Fehlt es an Geschichtsbewusstsein?


Wenn Menschen nicht mehr klar zwischen Demokratie und Diktatur differenzieren können oder wollen, ist das zu befürchten. Vielleicht entstehen diese Protestbekundungen auch aus einem Zorn, aus einer Hilflosigkeit heraus, und zornige Menschen differenzieren nicht. Zu einem gewissen Grad kann ich das verstehen. Aber muss es gleich der Vergleich mit den Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens sein? Es gibt bestimmte Dinge, die eignen sich einfach nicht für Vergleiche.

Gilt das auch für die Friedliche Revolution 1989? Das Aktionsbündnis bezeichnet die Proteste als "Montagsdemonstrationen".


Ja, auch da habe ich als Historiker Bauchschmerzen. Es sind zwar erstaunlich viele Menschen, die in Stuttgart protestieren, aber die Dimension ist doch eine ganz andere. In Leipzig demonstrierten bei den Montagsdemos 1989 jeweils mehrere hunderttausend Menschen. Was aber noch viel wichtiger ist - die Menschen gingen damals gegen eine Diktatur auf die Straße. Sie sind ein hohes Risiko eingegangen. Sie wussten nicht, ob nicht vielleicht doch die chinesische Lösung - Stichwort Platz des Himmlischen Friedens - zur Anwendung kommt. Heute wissen wir: Die Truppen standen bereit. Mit der Anspielung auf die Friedliche Revolution überheben sich die Stuttgarter Demonstranten.

Es verbietet sich also ihrer Meinung nach, sich in diese Tradition zu stellen?


Ja, ich denke schon. Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 hat das auch überhaupt nicht nötig. Sie hat einen ganz eigenen Charakter und Stellenwert. Da braucht es solche historischen Assoziationen nicht. Ich hätte es schöner gefunden, hätten die Verantwortlichen zum Beispiel von Dienstagsdemos gesprochen. Das wäre geistreich und spritzig gewesen.

Wie gefährlich sind unzutreffende historische Vergleiche?


Wenn die Projektträger mit chinesischen Kommunisten verglichen werden, vergiftet das die Gesprächssituation in der Stadt. Das tut der Sache nicht gut. Ich halte es für dringend geboten, dass beide Seiten verbal abrüsten. Gerade die Älteren müssten es doch aus den eigenen Erlebnissen eigentlich besser wissen. Es soll ruhig weiter gestritten werden, aber es muss die Relation im Blick behalten werden. Es geht um ein Infrastrukturprojekt.

Sie versuchen gerade den Bauzaun für das Haus der Geschichte zu sichern. Wie ist der aktuelle Stand?


Wir sind in sehr konstruktiven Verhandlungen mit den beteiligten Baufirmen. Dabei geht es auch um ganz praktische Fragen, wie den konkreten Abbau des Zauns.

Auch das Stadtmuseum hat Interesse am Zaun bekundet.


Wir sind beide sehr an einer gemeinsamen Lösung interessiert und werden diese auch in Bälde finden.

Wann ist denn mit einer großen Ausstellung über Stuttgart 21 im Haus der Geschichte rechnen?


Auf eine große Ausstellung werden wir wohl noch ein paar Jahre warten müssen. Dafür brauchen Historiker einen gewissen zeitlichen Abstand. Momentan sind die Emotionen noch viel zu aufgeladen. Wir versuchen gerade soviel Material wie möglich zu sichern und bitten die Demonstranten, nichts wegzuwerfen, sondern Plakate, Buttons und so weiter dem Museum zur Verfügung zu stellen.

Ihnen ist heute schon klar ist, dass die Bewegung einen Platz im Haus der Geschichte bekommen wird. Was ist das Besondere an diesen Protesten?


Das Neue ist die generationenübergreifende Breite, die Vehemenz und die Wucht der Demonstrationen. Obwohl die Verfahren rund um Stuttgart 21 rechtsstaatlich und demokratisch abgelaufen sind, sah sich die Politik gezwungen, mit den Schlichtungsgesprächen ein Verfahren einzuleiten, das es vorher in dieser Form nicht gegeben hat. Es spricht momentan vieles dafür, dass man hinter diesen neuen Status nicht mehr zurückgehen kann.

Markieren die Proteste eine Zäsur?


Mit solchen Begriffen gehen Historiker vorsichtig um. Sollte es sich in der Rückschau als Zäsur erweisen, ist es aber eine Zäsur innerhalb einer Demokratie. Das ist wichtig. Die Bundesrepublik war vor den Demonstrationen eine Demokratie und sie ist es nach ihnen. Das politische System mag sich angesichts neuer Formen der Bürgerbeteiligung wandeln. Wir reden allerdings von der Veränderung, der Weiterentwicklung eines demokratischen Systems, nicht von dessen Einführung.