Die einst häufigen Geier sind in Indien binnen weniger Jahre fast ganz verschwunden. Sie vergiften sich mit einem Schmerzmittel, das alten Kühen verabreicht wird. Doch es gibt Hoffnung – die Schutzprojekte scheinen zu wirken.

Stuttgart - Das Küken mit dem grau-weißen Flaum, dem langen Hals und großen, schwarz schimmernden Augen ist noch ziemlich wackelig auf den Beinen. Immer wieder plumpst der junge Vogel mit seinem Hinterteil auf ein Handtuch in der Brutstation von Pinjore im indischen Bundesstaat Haryana. Das Küken hackt mit seinem etwas schwer geratenen, kräftigen grauen Schnabel eifrig nach dem rohen, ein paar Tage alten Ziegenfleisch, das ein Betreuer auf einer Untertasse aus Porzellan serviert. Hin und wieder ist ein dünner Piepton zu hören, der ohne Weiteres von einem Schluckauf stammen könnte.

 

Wenn es nach den Wünschen von Chris Bowden, dem Programmmanager der Organisation Saving Asias Vultures from Extinction (deutsch: Rettung der asiatischen Geier vor dem Aussterben, kurz: SAVE) geht, ist es mit der Feinschmecker-Behandlung des kleinen Geiers bald vorbei. „Wir hoffen, im kommenden Jahr mehrere Sicherheitszonen mit einem Durchmesser von jeweils 400 Kilometern einrichten zu können, in denen wir im Brutschrank gezogene Geier in die freie Natur entlassen können“, sagt Bowden.

Denn Indien, das vor 20 Jahren noch Heimat von rund 40 Millionen der fliegenden Müllmänner der Natur war, hat heute mehr Millionäre als Geier. Tierschützer schätzen die Zahl der Tiere auf nur noch 4000. „Die Vögel hingen plötzlich tot in den Bäumen“, erinnert sich Vibhu Prakash an das plötzliche Massensterben der Aasfresser Ende der 90er Jahre. „Sie fielen tot aus Nestern. Es war furchtbar.“ Vibhu Prakash leitet das Geier-Programm der Bombay National History Society (deutsch: Bombays Gesellschaft für Naturgeschichte, kurz: BNHS), die zu den vielen indischen Partnern von SAVE gehört.

Diclofenac setzt den Nieren der Vögel zu

Schuld für den Niedergang der Geier war ein Medikament, das in Europa fast als Hausmittel gilt: Diclofenac. In der europäischen Hausapotheke ist der Wirkstoff zum Beispiel in Voltaren enthalten. In Indien wurden lange Zeit Kühe mit Diclofenac behandelt – und die Geier bekamen über das Fressen von Aas ihre Dosis. Indien hat zwar längst Brasilien als größten Rindfleischexporteur der Welt überflügelt, aber Kühen, die nicht in der Fleischerei landen, blüht am Ende ihres Lebens oft ein lange dauerndes Leiden voller Schmerzen, bevor sie verenden. Die Vierbeiner gelten den Hindus des Landes als heilig und werden deshalb auch nicht notgeschlachtet. Stattdessen wurde das eigentlich für Menschen gedachte Schmerzmittel vor zwei Jahrzehnten in Indien erstmals bei alten Tieren gespritzt – mit verheerenden Folgen für die Geier des Landes: Die Nieren der Vögel versagten.

Weil die Geier zu Millionen verendeten, labten sich stattdessen frei lebende Hunde an den Kadavern. Einer der Folgen des Massentods der Geier und der schlemmenden Hunde: Indien gehört heute zu den Ländern mit der höchsten Tollwutrate.

Auch die kleine und wohlhabende Religionsgemeinschaft der Parsis erlebte in der Finanzmetropole Mumbai einen tiefen Schock. Die Religionsgemeinschaft, die dem aus dem heutigen Iran stammenden Zoroastrismus folgt, betrachtet eine Leiche als unsauber und verbietet die Vermischung mit Wasser. Indiens Parsis legen die Toten deshalb seit Jahrhunderten in einer speziellen Kammer Aasgeiern und Krähen zum Fraß vor. Doch Ende der 90er Jahre fanden die Bestatter Monate nach einer Bestattung statt blanker Knochen eine verweste Leiche in der Grabkammer. Die Geier waren nicht mehr erschienen.

Nun gibt es es erstmals seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts Hoffnung, dass die Geier ab dem kommenden Jahr wieder in größerer Zahl über Indien kreisen werden. Es wäre ein Durchbruch, der nach der blitzartigen und nahezu völligen Ausrottung der Geier in Indien sowie den Nachbarländern Pakistan und Bangladesch noch vor zehn Jahren nahezu unmöglich erschien. In Nepal richteten Tierschützer aus Sorge um das Überleben der Vögel gar eigene „Geier-Restaurants“ ein, also Futterstellen, die sie nach dem „König der Geier“ genannten Gott Jataya benannten. „So etwas kann nur eine Notlösung sein“, sagt Chris Bowden von SAVE. Seine Organisation und ihre indischen Partner wollen die im Brutkasten gezogenen Vögel – sozusagen wertvolle Überlebende des Geier-Massensterbens – in Indien erst in die freie Wildbahn lassen, wenn in den Sicherheitszonen endgültig das Schmerzmittel Diclofenac aus den Regalen der Apotheken und den Medizintaschen der Tierärzte verschwindet, das fast überall in Indien immer noch alte Kühe glücklich macht.

Manche Pharmafirma ist findig

Die Regierung verbot den Einsatz der Schmerzspritzen bei Tieren. Der Schweizer Pharmariese Novartis stellte gar die Produktion des Geier-Vernichters in Südasien ein. Aber Indien genießt schließlich den Namen „Apotheke der Armen“, weil zahlreiche Generikahersteller billige Kopien teurer Medikamente produzieren.

Im Fall von Diclofenac verfielen die Produzenten zudem auf einen gemeinen Trick. Das für Geier so gefährliche Mittel wird jetzt von indischen Generikafirmen in kleinen Ampullen vermarktet, deren Inhalt bei Kühen nur zwei Tage lang reicht und die leicht in einer Tierarzttasche zu verstecken sind. Dagegen half bisher nicht einmal eine Initiative des deutschen Arzneimittelhersteller Boehringer-Ingelheim. Der Konzern verzichtete in Indien auf die Patentrechte für Meloxicam, ein alternatives Schmerzmittel, das Geier vertragen können. Leider kostet das Mittel auf dem indischen Markt immer mehr als das fatale Diclofenac.

Kein Wunder, das der Geierschützer Chris Bowden angesichts der vielen Hindernisse manchmal schier verzweifelt. „Wir geben jährlich mehr als 250 000 Euro für das Brutprogramm aus“, sagt Chris Bowden, „davon verwenden wir die Hälfte zum Kauf von lebenden Ziegen.“ Die Tiere werden einige Tage lang genau beobachtet und untersucht, bevor sie auf dem Schlachtblock landen und dann an die Geier verfüttert werden.

Ein weiterer Grund für die hohen Kosten: das Brutprogramm ist erfolgreicher als erhofft. Es ist alles andere als einfach für die Geierschützer in Indien, die notwendigen Mittel aufzubringen. Die Aasfresser mit den zugegebenermaßen unappetitlichen Fressmanieren gehören im Gegensatz zu Seehundbabys und putzigen Koala-Bären oder Walen nicht gerade zu den Geldbringern bei Spendensammlungen. Das kann auch das nette kleine Geier-Küken mit dem prekären Gleichgewicht, Riesenhunger und Schluckauf auf der Website von SAVE nicht ändern.