Feine Fäden schnüren sich um Vogelfüße, bis die Gliedmaßen abfaulen. Tierschützer helfen – im Grunde illegal. Bis zu 240 Euro Bußgeld müssen die Helfer für ihren Einsatz zahlen.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - So kommt Frau zu einem Hausverbot im Hauptbahnhof. Britta Oettl lässt ein paar Körner Vogelfutter auf den Boden rieseln und duckt sich. Greta Abele geht in die Hocke und schleicht sich an den Taubenschwarm heran, der nach den Körnern pickt. Oettl schnappt mit der rechten Hand den Vogel, den beide im Sinn haben, die Taube, die hinkt. Dann beginnt die Operation mit Nagelschere und Pinzette. Der Patient in Oettls Händen verhält sich so still, als wüsste er, dass ihm geholfen wird.

 

Um die Füße von Tauben schnüren sich feine Fäden und Haare, und sie ziehen sich immer weiter zu, einfach, weil Tauben dort leben, wo Menschen Haare und Fäden verlieren, seien sie aus Kleidern oder aus Obstnetzen. Die Fäden wachsen ins Fleisch, die Füße beginnen zu bluten, am Ende faulen sie ab. Etlichen der Vögel, die im Hauptbahnhof nisten, fehlen Zehen oder gleich der ganze Fuß. „Die dort drüben läuft erstaunlich gut auf ihren Stümpfen“, sagt Oettl. Die beiden Frauen gehören zu einer Gruppe von gut einem Dutzend Tierschützern, die Tauben von diesem Leid befreit. Zweimal wöchentlich streifen sie auf der Suche nach hinkenden Vögeln durch die Stadtmitte. Sie finden immer welche.

Ohne Körner ist es unmöglich, einen Vogel zu fangen

Allerdings ist das Füttern von Tauben in Stuttgart verboten, und ohne die Verlockung von Körnern ist es Menschen unmöglich, einen Vogel zu fangen. So kommt Frau zu einem Hausverbot im Hauptbahnhof. Ein Wachmann der Bahn hat es gegen Oettl verhängt. Damit kam sie billig davon. „Im Wiederholungsfall steigt das Ordnungsgeld auf 240 Euro“, sagt Oettl. Eine andere aus der Gruppe habe schon mehr als 1500 Euro überweisen müssen.

Ohnehin ist die Taubenrettung ein teures Hobby. Ein Parkwächter verdankt ihr ein Erlebnis, das er mit einiger Sicherheit am Abend erzählen wird. Ein Vogelfreund hat ihm einen Karton überreicht mit dem Hinweis, der Inhalt sei eine Taube, die später abgeholt wird. Dann kamen zwei junge Frauen, die das Tier in eine Tasche umsetzten, fütterten und untersuchten, direkt vor seiner Glasscheibe. Die Diagnose ist ein gebrochenes Bein. Die Operation kostet regulär um die 500 Euro. Oettls Mutter wird die Taube in eine Spezialklinik in Karlsruhe bringen. Die gewährt den Taubenrettern einen Sondertarif – immerhin auch noch 150 Euro.

Oettl beherbergt derzeit sieben Patienten. Sie kann einfach kein Lebewesen leiden sehen, sagt sie. Darum tut sie das. Kein Tier leidet mehr als eine Taube in einer Stadt, die mit ihr keinen vernünftigen Umgang findet. Tauben hungern ohnehin ständig, sie werden getreten, besprüht und beworfen. Sie verhungern und verwesen hinter Gittern, die Fassaden eben vor Tauben schützen sollen, aber diese Gitter werden mit der Zeit löchrig.

Die Vögel finden die Lücken – bis der Hauseigentümer sie schließen lässt, oft genug, ohne sich darum zu kümmern, ob Tiere dahinter verenden. Erst vor ein paar Tagen hat Oettl sich eine Leiter und eine Schere geliehen, um einen gefangenen Vogel zu befreien. „Stellen Sie sich vor, Rumänen oder Ungarn würden so mit ihren Straßenhunden umgehen“, sagt sie, „das gäbe einen Riesenaufschrei.“

Die Ratten der Lüfte sind nur ein Gerücht

Aber über Tauben spricht niemand, es sei denn als Ratten der Lüfte. Das sind sie zwar nicht, aber das Gerücht, dass die Vögel den Menschen mit Krankheiten überziehen, ist genauso wenig auszurotten wie die Taube selbst. Gemäß einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums ist der Kontakt zu Haustieren gefährlicher als der zu Tauben. Ungeachtet dessen hat mit dem Hinweis auf Gesundheitsgefährdung die Stadt den Aufbau eines Taubenschlags auf einem ihrer Häuser rund ums Rathaus abgelehnt. Der bisherige Taubenturm auf der Rathausgarage muss weichen, weil das Parkhaus abgerissen wird.

Oettl hat deswegen eine Petition ins Internet gestellt. Mehr als 1500 Tierfreunde haben sie unterschrieben. Ob ihretwegen oder aus anderem Grund: Inzwischen ist Ersatz angekündigt. „Eigentlich müssten auch Taubenhasser für Taubenschläge sein“, sagt sie. Einfach, weil die Taube nicht weicht. Wo sie einmal ist, da bleibt sie: Der Schlag im Hauptbahnhof ist wegen der Umbauten für Stuttgart 21 geopfert worden.

Nun nisten die Tiere eben überall, wo sie Platz finden, sei es auf dem Dach der Backstube gleich am Hauptaufgang, sei es zwischen den Nägeln, die verhindern sollen, dass sie sich niederlassen. In Taubenschlägen ersetzen Tierschützer die Eier gegen Attrappen. Seit der Schlag im Bahnhof abgebaut ist, wird wieder ausgebrütet. „Die ist ein Jungtier, die da und die da drüben auch", sagt Oettl. Sie alle sind in den vergangenen Monaten im Hauptbahnhof geschlüpft.