Längere Zeit ist der Stuttgarter Slam-Poetry-Künstler der Bühne fern geblieben. Jetzt ist er wieder da – sogar in dreifacher Ausführung.

Stuttgart - Er steht allein auf der Bühne, doch in dreifacher Ausführung: Im Zentrum er selbst, Timo Brunke, mit einem umgeschnallten Miniakkordeon. Linker Hand, auf einem hölzernen Kindergartenstuhl sitzend, wird er zum Knaben, der die Geschichte vom Hasen und vom Igel hören will. Und rechts, auf dem schwarzen Hocker, spricht „Überbrunke“ in der Manier eines Psychoanalytikers mit den Fingerspitzen am Kinn. Diese Selbsttherapie ist nötig. Denn Brunke hat Zeitschulden, die er nie mehr begleichen können wird.

 

Um dieses Gerüst spinnt sich Timo Brunkes neues Programm „Weiter, schneller…Huch!“, mit dem er sich am Freitag in der Rosenau zurückgemeldet hat. In den letzten Jahren hatte sich der Mann, der den Poetry Slam nach Stuttgart brachte, auf pädagogisches Wirken konzentriert. Er selbst sah diesen Abend eher als Vorpremiere an, holte sein Manuskript auf die Bühne, schaute aber so gut wie nie hinein.

Brunke ist ein Sprachfreak. Seine mit weicher Stimme gesprochenen Slam-Texte, seine gewundene Poesie begleitet er mit weit aufgerissenen Augen, sein ganzer Körper folgt dem Wort. Könnte man diese Vortragsart zufriedenstellend wiedergeben – ha! –, man würde doch wohl selbst auf der Bühne stehen und nicht auf hartes, kantig-scharfes Zeitungspapier schreiben. Die für ihn eher untypischen, Stand-Up-artig anmutenden Überleitungen zwischen den Dichtungen mögen manchen verwundern. Die blanke Komik liegt ihm tatsächlich weniger. Sein Witz schillert eher im Poetischen.

Er bekommt einen Schuldenschnitt

Ein wiederkehrender, von Akkordeonklängen untermalter Refrain lautet: „Digital Natives, ihr könnt mich nicht verstehen!“ Die Internetureinwohner würden sich schlichtweg nicht daran erinnern, „als die Zeit noch ein Stadtpark und keine Großbaustelle war.“ Auch ein Fußballspiel, bei dem die Zeit je nach Ergebnis rast oder lahmt, bedichtet Brunke betörend und humorig zugleich. Er avanciert da unter anderem zum Stürmer, der mit verzogener Visage zum Kopfball ansetzt: „Dies ist kein Menschengesicht! Es ist das Gesicht der Mangrovensumpfschildkröte!“

Nach der Pause wendet sich das Blatt: Die Typen von „Timeology“ schenkten ihm den Schuldenschnitt – jetzt hat er zu viel Zeit. Der Zeitbillionär gründet eine Selbsthilfegruppe und bleibt freilich einsam, das Problem hat ja sonst keiner. Letztlich bekommt der kleine Timo die „Hase und Igel“-Story zu hören. Sie ist Höhepunkt des schizophrenen Trialogs, eine herrliche Zeitgeistanalyse: Der Poet modifiziert den bekannten Wettlauf um das stachelige Betrügerpärchen, zieht Parallelen zu Fitness-, Gesundheits- und Ernährungswahn, zu Amazons Expresslieferkomplex und kapitalistischen Monopol- respektive Weltwirtschaftsmachtfantasien. Brunke bei alldem zu folgen ist nicht immer leicht, aber keinesfalls vergeudete Zeit.