Es ist vorbei: Jan-Ove Waldner, der beste Tischtennisspieler aller Zeiten, beendet seine große Karriere. Der „Mozart an der Platte“ hat Generationen von Fans verzaubert mit seinem virtuosen Spiel. Eine Reminiszenz von StZ-Sportredakteur Tobias Schall.

Stuttgart - Nun endet es also. An einem Donnerstagabend im Februar des Jahres 2016. In einer Halle in Schweden mit der Partie seines Vereins Spårvägen BTK gegen BTK Rekord, das letzte Spiel der nationalen Liga. Dort in Stockholm, wo alles begonnen hat, vor rund 45 Jahren. Nun ist das Spiel aus.

 

Jan-Ove Waldner wird seine Karriere beenden, der größte Tischtennisspieler aller Zeiten tritt ab, auf kleiner Bühne, bescheiden, ohne großes Aufhebens darum zu machen. In einem Video auf seiner Facebook-Seite sagt er ganz unprätentiös: „Das Spiel am Donnerstag wird mein letztes Pflichtspiel sein.“

So geht einer, der in diesem Sport alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt, und der von Fans verehrt wird wie kein Zweiter. In sportverrückten Schweden fragen sie sich zum Abschied, ob Jan-Ove Waldner der größte schwedische Sportler aller Zeiten ist? Größer als Björn Borg? Als Ingemar Stenmark? Oder Zlatan Ibrahimovic? Beim Voting des „Expressen“ liegt „J.O.“ auf Platz zwei, hinter Stenmark.

Es gibt Sportler, die überdauern die Zeiten. Ein Muhammad Ali. Ein Pelé. Ein Michael Jordan. Ein Wayne Gretzky. Und ein Jan-Ove Waldner. Die vor ihm Genannten sind trotz der großen Verbreitung des Tischtennissports zweifellos viel bekannter als der Schwede. Aber er gehört fraglos in diese Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, in den Pantheon des Sports.

Der Mann mit der goldenen Hand

Waldner wird nicht als der erfolgreichste Athlet in Erinnerung bleiben. Auch er hat viel gewonnen, er war Olympiasieger, zweimal Einzel-Weltmeister und hat mit Schweden zwei Jahrzehnte die Supermacht China düpiert und zu vier Mannschafts-Weltmeisterschaften geführt, aber andere Spieler haben noch mehr gewonnen – nein, sein Vermächtnis sind nicht allein die Erfolge. Es ist sein Spiel. Er war ein Tischtennisspieler im Wortsinne.

Waldner hatte diese Gnade in der Hand, ein solche unglaubliches Gefühl für den Umgang mit Schläger und Ball, wie es dieser Sport noch nie gesehen hat. In seinen besten Momenten war sein Spiel die virtuose Komposition eines Genies, das einzigartige Zusammenspiel von Auge und Hand, von Talent und der Kreativität, überraschende Lösungen zu finden. „Mozart“, wird er genannt. Sein Gefühl für Platzierung, Effet und Rhythmus ist legendär, die Zelluloidkugel schien ihm zu gehorchen. Er beherrschte das aggressive Spiel genauso wie die Ballon-Abwehr viele Meter hinter der Platte, er erfand einen Unterschnitt-Block, der bei Olympia 1992 die Gegner verzweifeln ließ. Für die Fans ist er der „Tischtennis-Gott“, der Mann mit der goldenen Hand. „Ich fühle mich geschmeichelt, aber es ist schon ein bisschen übertrieben.“

In China war er in den 90ern bekannter als Bill Clinton

1983 war es, als sich der damals 17-Jährige aufmachte, die Tischtennis-Welt zu erobern. „Diesen jungen Schweden müssen wir im Auge behalten“, sprach der heutige chinesische Sportchef Cai Zhenhua. Sechs Generationen von chinesischen Tischtennisspielern haben sich seitdem daran versucht, das Phänomen Jan-Ove Waldner endgültig zu besiegen. Horden von Spielern haben sie ausgebildet, die seinen Stil imitierten, sein Konterfei haben sie im Trainingszentrum in Peking aufgehängt als optischen Anreiz. Er war das sportliche Feindbild der Tischtennis-Hegemonialmacht. Vor keinem hatten sie in China so viel Respekt wie vor ihm. Und keiner war und ist populärer als Waldner, der in Peking einst ein Restaurant namens „W“ betrieb und viele Wochen im Jahr als Repräsentant vieler Firmen in China unterwegs ist. in den 1990er war er laut Umfragen in China bekannter als der damalige US-Präsident Bill Clinton. Vor einigen Jahren bekam „Lao Wa“ (ewig junger Baum), wie sie ihn aufgrund seiner langen Karriere nennen, sogar seine eigene Briefmarke von der chinesischen Post – als erster noch lebender Ausländer überhaupt.

Chinas Tischtennis-Strategen haben alle Gegner entzaubert. Einen Timo Boll, der nach Waldner als nächster Schlüsselspieler Europas im Kampf gegen Asien galt, und all die anderen vor Waldner. Den Waldi-Code haben sie aber nie wirklich dechiffriert. Er narrte sie bis ins hohe Alter, viel seltener natürlich als früher, aber nicht weniger schmerzhaft: 2000 führte er die alten Schweden mit seinem Freund und Weggefährten Jörgen Persson völlig überraschend zum Team-WM-Titel, bis heute der letzte, den nicht China gewann. Und bei Olympia 2004 warf er sensationell den Topfavoriten Ma Lin aus dem Wettbewerb.

Er war wie die Enigma des Tischtennis’, ein virtuos codiertes Meisterwerk. Ein Genie, das haben sie erkennen müssen, lässt sich nicht kopieren. „Ich war der letzte, vor dem die Chinesen richtig Angst hatten.“

Er war ein Spieler. An der Platte, aber nicht nur da. Er ist leidenschaftlicher Golfer und liebt die Pferdewetten, mehr, als ihm gut tat. Viel Geld, so hat er mal erzählt, habe er beim Glücksspiel verloren, er war deswegen sogar in Behandlung. Um keinen anderen Tischtennisspieler ranken sich so viele Legenden und Geschichten, Wahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten. Der eine will Waldner, der keinen Führerschein besitzt („Ich bin einmal durchgefallen, ich brauche aber auch keinen“) nächtens im Bastrock auf der Platte tanzen gesehen haben, der andere glaubt zu wissen, dass sich Waldner 2002 seinen schlimmen Fußbruch in einer Stockholmer Kneipe beim Sturz auf einer Treppe mit seinen Freunden Björn Borg und Thomas Brolin zugezogen hat. Waldner selbst hat nie gerne über sich geredet. Sein Königreich ist die Box mit der Platte mittendrin.

Tack för allt, Waldi. Danke für alles, Waldi

Der mittlerweile 50-Jährige hat am Ende seiner Karriere die Legende vom faulen Talent kultiviert. Er wirkte nicht immer hundertprozentig austrainiert, selbst bei seinem Einzug ins Olympia-Finale 2000, das er verlor, hatte er das eine oder andere Kilo zu viel. Er genoss das Leben in vollen Zügen. Aber es war nicht immer so, auch wenn manches über die Jahre verklärt wurde. Auch ein Jan-Ove Waldner hat trainiert. Und zwar viel. Die Wahrheit ist, dass „Waldi“ in jungen Jahren geackert hat wie ein Besessener. Ja, vielleicht wird es nie wieder einen geben wie diesen Auserwählten dieses Sports. Aber auch das Jahrhunderttalent der goldenen schwedischen Generation um seine Kumpels Persson oder Mikael Appelgren konnte (und musste) hart arbeiten.

Von 2003 bis 2005 spielte er beim SV Plüderhausen, der Tischtennis-Magier mit dem Bauchansatz war die Attraktion im Remstal, danach war er bis 2012 für Fulda aktiv. Für Olympia 2004 brachte er sich noch einmal in Form, vergleichsweise schlank stand er dann in Athen an der Platte. Er war 38 Jahre alt. Und er versprühte noch einmal den Zauber der alten Tage. Er besiegte, wie erwähnt, sensationell Ma Lin und danach Timo Boll. Zuletzt lebte er vor allem von seiner Begabung und der Arbeit in jungen Jahren, wettbewerbsfähig war er auf höchstem Niveau längst nicht mehr, spielte aber noch bei seinem Heimatverein in Schwedens erster Liga ordentlich mit.

Nun ist Schluss. Es ist an der Zeit.

Argentiniens Fußball-Legende Diego Maradona hat sein Skandaltor gegen England bei der WM 1986 zur „Hand Gottes“ erklärt, in Wahrheit war es eine übler Schurkenstreich. Jan-Ove Waldner wurden viele Namen gegeben, aber vielleicht ist er, wenn man sich der religiösen Worte bedienen will, die wahre Hand Gottes.

Tack för allt, Waldi. Danke für alles.

Seine Erfolg

Erfolge
Jan-Ove Waldner hat in seiner langen Karriere alle großen Titel gewonnen. Vergleichsweise lange musste er auf seinen ersten EM-Titel im Einzel warten (bis 1996).

Vita
Olympiasieger (1992), Olympia-Silber (2000), Einzel-Weltmeister (1997, 1989), Mannschafts-Weltmeister (2000, 1993, 1991, 1989), Einzel-Europameister (1996), Doppel-Europameister (1996, 1988, 1986), Team-Europameister (2002, 2000, 1996, 1992, 1990, 1988, 1986), World-Cup-Gewinner (1990).