Auf einer kerzengeraden Strecke mit freier Sicht wird ein Fußgänger in Stuttgart von einer Stadtbahn überrollt und getötet. Offenbar wollte der Passant eine verbotene Abkürzung über die Gleise nehmen – warum hat er die Bahn nicht gesehen?

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart - Der kürzeste Weg ist nicht immer der beste – und manchmal ist er sogar tödlich. Nach rechts wären es noch 100 Meter bis zu einem Gleisüberweg gewesen, nach links etwas mehr als 150 Meter. Ein 41-jähriger Fußgänger wählte am Dienstag gegen 22.15 Uhr in Wangen die Variante geradeaus, eine verbotene Abkürzung über die Stadtbahngleise – und hat dies mit dem Leben bezahlt. Die Polizei rätselt nun darüber, wie der Passant auf der Ulmer Straße auf freier Strecke die Bahn übersehen konnte.

 

Der 42-jährige Stadtbahnfahrer, der mit seiner Bahn der Linie U 9 Richtung Hedelfingen unterwegs war, hatte keine Chance. Der Fahrer der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) war auf dem Weg zur Haltestelle Im Degen, als plötzlich von links ein Fußgänger über das Gleisbett stapfte. Selbst eine Gefahrenbremsung konnte die Kollision nicht mehr verhindern. Der Mann geriet unter die Bahn und starb noch an der Unfallstelle. Er ist der nunmehr sechste Verkehrstote in Stuttgart. Vier Fußgänger, ein Radfahrer, ein Autofahrer starben in diesem Jahr auf den Straßen der Landeshauptstadt. Zwei davon kamen auf Gleisüberwegen ums Leben.

Auch im Dezember ein Todesopfer auf der Strecke

„Die Ermittlungen zu den Umständen dauern noch an“, sagt Polizeisprecher Jens Lauer. Vieles sei rätselhaft, denn eigentlich hätte der 41-Jährige die Stadtbahn kommen sehen müssen. Eigentlich – doch auf der Strecke der U 9 ist das nicht einmal ungewöhnlich. Etwas weiter Richtung Hedelfingen, auf Höhe der Straße Heiligenwiesen, wollte im Dezember vergangenen Jahres eine 68-jährige Passantin ebenfalls die Gleise auf freier Strecke überqueren – und lief dabei genau vor eine Stadtbahn der Linie U 9. Für sie kam jede Hilfe zu spät.

Lesen Sie hier: Selbstversuch als Stadtbahnfahrerin – um einen Einblick in die Arbeit der Stadtbahnfahrer zu bekommen, hat unsere Redakteurin Dominika Jaschek eine Stadtbahn-Fahrstunde genommen.

Wie ließen sich solche Unfälle verhindern? Durch mehr gesicherte Gleisüberwege? Vor allem bei Autofahrern hat sich gezeigt, dass sie irgendwann verbotene Wendemanöver über die Gleise starten, wenn das Linksabbiegen auf einer zu langen Strecke nicht erlaubt ist – wie etwa in der Schlossstraße im Stuttgarter Westen.

Allerdings sind Fußgängerüberwege mit Gelbblinkern und z-förmigen Abschrankungen auch kein Allheilmittel: Ende Juni übersah ein 70-jähriger Radfahrer am Königsplatz in Bad Cannstatt trotzdem eine Stadtbahn – und erlitt bei der Kollision tödliche Verletzungen.

Polizei: Fußgängerunfälle lassen sich kaum vorbeugen

Unachtsamkeit, Leichtsinn, womöglich Alkoholeinfluss oder gesundheitliche Einschränkungen – mit dem jüngsten Fall setzt sich der traurige Trend bei Fußgängerunfällenfort. Im vergangenen Jahr registrierte die Polizei unter acht Verkehrstoten fünf Passanten. In diesem Jahr sind es vier von sechs. Laut Verkehrsunfallstatistik von 2016 stieg die Zahl der Fußgängerunfälle in der Stadt um 15 Prozent auf 268. Die Zahl der Schwerverletzten stieg von 50 auf 66. Das Problem für die Polizei: Obwohl Fußgänger zu 40 Prozent die Unfälle selbst verschulden, gibt es, anders als beim Straßenverkehr, kaum Präventionsmaßnahmen dagegen – keine Rotlichtüberwachung, kein Tempolimit, kein spürbares Verwarnungsgeld für Fehlverhalten. Es bleiben nur Appelle wie die von Polizeivizepräsidenten Norbert Walz: „Fordern Sie Ihr Glück nicht unnötig heraus, sondern halten Sie sich an die Verkehrsregeln.“