Der amerikanische Autor Tom Drury träumt in seinem Roman „Das stille Land“ vom Zwielicht der Provinz. Im Stuttgarter Literaturhaus stellt er ihn vor.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Keine Ahnung, welchen Film sich die beiden Farmer angeschaut haben, die ihr Bier in der einsamen Bar „Jack of Diamond“ trinken, in der Pierre Hunter jobbt. Irgendein Sexfilm, bei dem die Akteure Masken getragen haben. „Man wusste gar nicht, wer wer war.“ – „Aber das ist doch gerade der Clou, oder nicht? Die Anonymität. Das soll ja gerade das Erregende sein.“ – „Dass man nicht weiß, wie jemand aussieht? Was soll denn daran spannend sein?“ Vielleicht ist der Film, der sie vom Gespräch über Motorsensen oder Küchenabfallzerkleinerer abgelenkt hat, ja Stanley Kubricks Verfilmung von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, in dem sich Maskierte erotischen Exerzitien widmen und sich zwischen Wirklichkeit und Hinterwelt rätselhafte Durchgänge auftun.

 

Jedenfalls wäre „Traumnovelle“ keine schlechte Gattungsbezeichnung für Tom Drurys Roman „Das stille Land“, der jetzt, neun Jahre nach seiner amerikanischen Erstveröffentlichung, auf Deutsch erschienen ist. Natürlich nur, wenn man statt der hyperempfindlichen Sensorik der Wiener Moderne Dialoge von so kauziger Körnigkeit wie die Zitierten hinzudenkt, und unter Hinterwelt weniger die seelischen Abgründe des Fin de Siècle versteht, denn jene weiten Provinzen im Nirgendwo der USA, die den Mittelpunkt der literarischen Welt Tom Drurys bilden.

Gewalttaten auf dem Fays’s Hill

Man könnte diesen Autor, dessen Werk hier erst spät bekannt wurde, als einen Idylliker bezeichnen, setzt man voraus, dass Idyllen immer gefährdet sind und in der Regel an das grenzen, was sie zerstört. In seinem großen Provinzepos „Das Ende des Vandalismus“ treiben die freundlichen Landleute dem Untergang ihrer agrarisch geprägten Lebensform entgegen. In dem „Stillen Land“ ist es eine Tür, die das Reich der Toten mit der behaglichen Tristesse kleinstädtischer Beschaulichkeit verbindet. „Diese Tür ist zu allen Zeiten und ohne Ausnahme verschlossen zu halten“, steht darauf. Pierre Hunter muss durch sie hindurch. Und das hängt mit der seltsamen Kette von Ereignissen zusammen, die, wie es in einem Kapitelanfang heißt, „zu den berühmten Gewalttaten auf dem Fays’s Hill führen sollte“.

Doch um diese drastische Verheißung nicht in den falschen Hals zu bekommen, sollte man sich vielleicht erst einmal mit einem Gedicht von Carrie Sloane, der Vorsitzenden des örtlichen Poesie-Workshops, einstimmen. Mit jenem etwa, das sie über den Golfplatz im Winter geschrieben hat. Denn dieser Roman, so spannend er ist, lebt weniger von einer bündig entwickelten Handlung, als von den eigentümlich gebrochenen Atmosphären, in denen er sich sprachlich manifestiert. Wann hätten sich Schicksalsmächte schon einmal so präsentiert, wie der alte Mann in Cowboystiefeln, auf den Pierre nach einer leicht blamablen Silvesterparty zufällig in einer Picknickhütte stößt: „Sind sie bereit?“ – „Wofür“ – „Keine Ahnung. Für das neue Jahr. Was es auch bringen mag.“ – „Mehr als bereit.“ – „Gut. Hand drauf.“ So wird hier ein Pakt geschlossen, von dem Pierre natürlich noch nicht ahnen kann, dass es einer mit dem Jenseits ist.

Rettung durch eine rätselhafte Unbekannte

Wie man insgesamt eigentlich nicht drauf gekommen wäre, dass die rührenden adoleszenten Verlusterfahrungen – wenn Pierre nach dem Laufpass seiner Freundin versucht, „sich in einen aufgewühlten Zustand romantischer Verlustgefühle hineinzusteigern“ – irgendwann aufhören, mit rechten Dingen zuzugehen. Spätestens dann, als er beim einsamen Eislaufen auf nächtlichem See einbricht, von einer rätselhaften Unbekannten gerettet wird und sich in sie verliebt. Nun schuldet er ihr einen großen Gefallen.

Drurys warmherziger und gleichzeitig trockener Erzählton eignet eine eigentümliche Kraft der Verwandlung, das Befremdliche normal und das Normale befremdlich erscheinen zu lassen. Den Szenen auf der bestickten Weste einer Nebenfigur widmet er die gleiche Sorgfalt wie den verwinkelten Wegen der Vorsehung. Deshalb überspringen wir einige Stationen, von denen nur der alte Mann in Cowboystiefeln und der Autor selbst so genau wissen, wie notwendig sie mit dem Ganzen zusammenhängen.

Showdown auf der Obstwiese

Wie Pierres Freund den ganzen Tag in Pick-ups mit Rechen, Fässern und Sägeböcken auf der Ladefläche durch die Gegend fährt, ohne dass man den Eindruck hat, er müsse irgendwohin kommen, so entwickelt sich das Geschehen. Und führt Pierre doch punktgenau dahin, wo er mit dem unangenehmen Typen zusammentrifft, den zu Rechenschaft zu ziehen er auserwählt wurde. Pierres mysteriöse Retterin nämlich hat mit diesem kriminellen Loser noch eine Rechnung offen, wegen eines Hausbrandes, bei dem sie selbst zu Tode gekommen ist. Wem das spanisch vorkommt, der hat keinen Begriff von der coolen Selbstverständlichkeit, mit der hier die Dinge zwischen Diesseits und Jenseits hin und her gespielt werden, zum Beispiel das Problem, wie man als Gestorbene zu einem neuen Körper kommen kann.

Der große Showdown auf einer Obstwiese findet am selben Tag statt, an dem das ganze Städtchen wie jedes Jahr des legendär missglückten Coups der Dilinger Brüder gedenkt – aber das ist eine andere Geschichte. Mindestens so dämlich allerdings wie diese in Liedern und Theaterstücken gefeierte Pannen-Bankräuberbande stellen sich bei der großen Abrechnung Pierres Widersacher an. Trotzdem findet er sich am Ende vor besagter Tür wieder. Da muss er nun durch.

Doch Pierre hat nicht umsonst gelebt. Vielleicht öffnet sich ihm die Schicksalspforte ja auch noch einmal in die Gegenrichtung. Denn so gelassen man sich in der Provinz mit dem Totenreich arrangiert, Leben ist besser als der Tod. Als passionierter Schlagzeuger hat Pierre das einmal so formuliert: „Wir müssen sterben, aber bis dahin sollten wir ordentlich Krach machen.“ Die letzten Fragen schweben luftig und leicht über dem Staub und der Erde des stillen Landes, das Tom Drury besingt – die Country-Version großer Schicksalsmusik.