Die Polizei spricht hartnäckig von einem Unglücksfall. Doch der Mann, der am Montag bei der Zwangsräumung eines Unigebäudes in Tübingen in den Tod stürzte, hat sich im Vorfeld ausführlich über sein bevorstehendes Schicksal geäußert.

Tübingen - Der 69-jährige Mann, der am Montagmorgen bei einer Zwangsräumung eines Tübinger Unigebäudes ums Leben gekommen ist, hat seinen Tod angekündigt. Zwar bezeichnet der Sprecher des Polizeipräsidiums Reutlingen, Christian Wörner, die Geschehnisse weiterhin als Unfall. Doch im Internet hatte der Mann, der das Gebäude vermutlich selbst in Brand setzte und dann vom Balkon stürzte, offen Suizidabsichten geäußert.

 

Briefe an den Staatsanwalt

Walter R., ein gescheiterter Akademiker und wunderlicher Kerl, hatte sich seit vielen Jahren in den Räumlichkeiten eingerichtet. Er weigerte sich hartnäckig auszuziehen. Auf seiner Homepage beschreibt er sich als Gründer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz und breitet seine schrägen Theorien detailliert aus. Auch die Folgen der angedrohten Zwangsräumung sind in seinen Briefen, die an Hochschulvertreter und die Tübinger Staatsanwaltschaft adressiert sind, nachzulesen. „Da ich unter diesen Umständen nicht leben möchte, würde ich mich suizidieren“, schreibt er in einer mehrseitigen Stellungnahme zur damals noch bevorstehenden Räumung. Den Unirektor Bernd Engler bezichtigt er in einer Strafanzeige des versuchten Mordes. Die Staatsanwaltschaft teilte ein Aktenzeichenzu und stellte das Verfahren dann ein.

Die Dramatik des Falls, der sich über viele Jahre hinzieht, war den Behörden aber schon länger bewusst. Im Jahr 2013 war eine Zwangsräumung kurzfristig abgesagt worden. Der 69-Jährige hatte ein ärztliches Attest vorgelegt, das suizidale Tendenzen bescheinigte. Ein vom Amtsgericht beauftragtes medizinisches Gutachten kam 2016 allerdings zu dem Schluss, dass eine Räumung erfolgen könne und „kein erkennbar erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen“ bestehe. Ein tragischer Trugschluss, wie sich nun herausgestellt hat.

Laut dem Justizministerium sind solche Fälle die Ausnahme

„Dass er das Haus anzündet, war nicht abzusehen“, beharrt der Präsident des Tübinger Landgerichts, Reiner Frey. Bei ihrem Eintreffen waren der Gerichtsvollzieher und seine Begleiter vom städtischen Ordnungsamt von dem Mann beschossen worden. Solche Vorkommnisse seien eine absolute Ausnahme, sagte der Sprecher des baden-württembergischen Justizministeriums, Robin Schray. Jedoch verzeichne sein Ministerium „seit Jahren ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis in der Justiz“. Seit 2014 existiere deshalb ein „Meldesystem für sicherheitsrelevante Vorkommnisse“. Nahezu täglich gebe es dort Eintragungen. 26 davon stammten im Jahr 2016 von Gerichtsvollziehern. Schon 2015 waren es demnach 26 gewesen.

„Wir haben einen gefährlichen Beruf“, sagte der Landesvorsitzende des Gerichtsvollzieher-Bundes, Rüdiger Majewski. Anders als Polizisten arbeiteten die 510 verbeamteten Gerichtsvollzieher im Land meist allein. Bei Zwangsräumungen werde in der Regel aber die Polizei hinzugezogen. „Das ist der tiefste Eingriff in die persönliche Sphäre eines Menschen, da sind extreme Reaktionen denkbar“, sagte Majewski. In der Ausbildung, die seit dem vergangenen Jahr zentral als Bachelor-Studiengang an der Schwetzinger Hochschule erfolgt, werde deshalb ein Schwerpunkt auf deeskalierende Gesprächsführung, Gewaltprävention und Eigensicherung gelegt, erklärte der Ministeriumssprecher Schray. Auch in der Weiterbildung sei viel geschehen, berichtet Majewski. Doch „wenn jemand durch die Türe ballert, nutzen Ihnen 100 Stunden Psychologie nichts.“

Die Experten haben keinen Zutritt

Derweil kann das Gebäude weiterhin nicht betreten werden. Es herrsche akute Einsturzgefahr, sagte der Leiter des Landesamtes für Vermögen und Bau in Tübingen, Bernd Selbmann. Das Feuer sei im Erdgeschoss ausgebrochen. Dort hat der Nestor der Tübinger Kulturwissenschaft, Hermann Bausinger, seinen Arbeitsbereich. Der emeritierte Professor befindet sich gegenwärtig in Südafrika und dürfte seine Bibliothek ebenso komplett verloren haben wie das Arno-Ruoff-Archiv. Beim Brand sei die Holzkonstruktion der hundert Jahre alten Villa komplett zerstört worden. Nicht einmal die Kriminaltechniker dürften das Gebäude betreten, sagte der Polizeisprecher Wörner. Deshalb gebe es keine Erkenntnisse über die Brandursache. Ein Giebel, der auf die Straße zu fallen droht, muss nun abgerissen werden. Anschließend werde das Gebäude Stück für Stück abgetragen, sagte Selbmann.

Immer mehr Zwangsräumungen

Eskalation

Der schlimmste Vorfall bei einer Zwangsräumung im Land ereignet sich vor fünf Jahren in Karlsruhe. Am 4. Juli 2012 erschießt ein 53-jähriger Mann vier Menschen und sich selbst. Unter den Opfern ist auch der Gerichtsvollzieher. Häufig kommt es zu Pöbeleien, manchmal auch zu Gewalt. Im Januar 2016 verletzt ein 29-Jähriger im Stuttgarter Hallschlag sechs Polizisten, die ihn aus der Wohnung werfen sollen.

Zunahme

Ob die Gewalt gegen Gerichtsvollzieher zunimmt, lässt sich in Ermangelung von Zahlenmaterial nicht belegen. Allerdings gibt es mehr Zwangsräumungen. „Die Zahlen gehen nach oben“, bestätigt eine Sprecherin der Stadt Tübingen einen Trend, der auch für Stuttgart gilt: 2013 seien 13 Prozent der Gerichtsfälle, in denen der Mieterbund Prozesskostenhilfe leistete, auf Räumungsklagen entfallen. Bis 2016 habe sich diese Quote auf 24 Prozent erhöht. „Die Mieten steigen, viele können das nicht bezahlen“, sagt Udo Casper vom Mieterbund.