Am Toten Meer reißen gefährliche Krater auf. Damit bricht die Existenzgrundlage einer ganzen Region weg. Aus dem ökologischen Desaster wollen einige nun eine Touristenattraktion machen.

Jerusalem - Man möchte nicht in ein solches Loch stürzen. Diese Abgründe sind wahre Fallen, ausgestattet mit glitschigem Schlammbett. Dazu hängen die karstigen Außenränder meist über, so dass ein weiterer Abbruch droht. Ein Blick hinein genügt, um trotz flirrender Hitze zu schaudern. Nicht umsonst warnen entlang der Straße, die in (noch) sicherer Distanz am Toten Meer vorbeiläuft, Schilder: „Vorsicht, Senklöcher-Gebiet“. Damit rechnen zu müssen, der Boden könnte jederzeit unter den Füßen wegsacken, verschafft mulmige Gefühle. Gundi Shahals Bemerkung, dass keine israelische Versicherung mehr für Senklöcher-Unfälle aufkomme, klingt beunruhigend. Noch weniger ihre Geschichten, was schon alles passiert ist, seitdem in den 90er Jahren eine Frau in ein Loch fiel und der Campingplatz des Kibbuz zumachen musste.

 

Aber Gundi Shahal, eine 54-jährige Ökologin aus Überzeugung, kennt sich in der Gefahrenzone aus. Als junge deutsche Volontärin kam sie zur Dattelernte her. Seit 1988 lebt sie dauerhaft im Kibbuz Ein Gedi, einer traumhaften Oase nahe dem Toten Meer, deren Existenzgrundlage buchstäblich wegbricht. Mit ihr als Führerin plus Wasserflasche (ein Muss) und Handy (für alle Fälle) im Rucksack geht es auf frühmorgendliche Expedition in die schlamm- und salzverkrustete Kraterlandschaft. Kaum darin eingetaucht, kommt man sich vor wie beim Spaziergang auf dem Mond. Schwer vorstellbar, dass sich das Areal vor geraumer Zeit sanft zum Strand neigte. Heute tun sich hier gewaltige Trichter auf. Risse an der Oberfläche deuten an, dass der Erdboden in Bewegung ist.

Der Wasserspiegel sinkt jährlich um einen Meter

Das Tote Meer zieht sich zurück. Der tiefste Punkt der Erde war es schon immer. Aber in den letzten vier Jahrzehnten ist sein Wasserspiegel, der einst 400 Meter unterhalb des Meeresspiegels lag, um jährlich einen weiteren Meter gesunken. Ein Teil des Salzstocks im Meeresgrund befindet sich inzwischen im Trockenen. Das Regenwasser, das im Winter aus den Wüstenfelsen nieder fließt, wäscht die festgebackene Solschicht unaufhaltsam aus. Rund 6000 Senklöcher gibt es bereits auf israelischer Küstenseite, 400 davon entstanden allein im letzten Jahr. Ein ökologisches Desaster, das neben dem Tourismus auch den Anbau auf den Mango- und Dattelplantagen in der Uferebene kaputt gemacht hat.

Anfangs hat man versucht, die zwischen Palmen aufgeplatzten Riesenlöcher zuzuschütten. „Wir haben sie mit Abfällen vollgestopft“, erinnert sich Yehuda Cohen, 74, ein Ex-Plantagenarbeiter. „Aber sie taten sich immer wieder auf.“ 3000 Dattelbäume hat der Kibbuz bereits verloren. Viele sind umgekippt, haltlos ragt das Wurzelwerk in die Luft. Den 200 Kibbuz-Mitgliedern in Ein Gedi selbst, erhöht gelegen am Gebirgshang, droht keine Gefahr. Israels Regierung hat ihnen zwölf Kilometer südlich ein Ersatzgebiet für den Dattelanbau zugewiesen. Aber die Investition verschlingt Millionen. Die Jungen wandern ab, die Zukunft ist ungewiss.

Auf einmal war der Parkplatz des Strandbads weg

Die Senklöcher sind nicht beherrschbar. Neben Campingplatz, Kiosk und Strandrestaurant mussten ganze Straßenzüge gesperrt werden. Die alte Uferstraße ist heute in kilometerlangen Abschnitten eine No- Go-Zone. Eine 15 Millionen Euro teure Brücke wurde nach zweijähriger Inbetriebnahme 2015 geschlossen, weil sich neue Senklöcher auftaten. Das Strandbad Mineral, früher eines der schönsten am Toten Meer, ist ebenfalls dicht. Eines Morgens im Dezember 2014 „war der Parkplatz weg“, berichtet Gundi Shahal. „Ein paar Wochen später war auch der Massageraum im Loch verschwunden.“ Aufgeben kommt für die Leute in Ein Gedi nicht infrage. Dafür ist ihre Oase zu reizvoll. Und so sind einige Bewohner auf die Idee verfallen, die Senklöcher zur Touristenattraktion zu machen. Auch die israelische Naturschutzgesellschaft (SPNI) ist dafür. „Jahrzehntelang diskutieren wir darüber, wie wir mehr Wasser in das sinkende Tote Meer leiten könnten“, sagt ihr Sprecher Nir Papai. „Jetzt ist es an der Zeit, etwas zu tun.“

Das kürzlich zwischen Israel und Jordanien vereinbarte Vorhaben, die Restlake aus einer Entsalzungsanlage am Roten Meer in Akaba ins Tote Meer zu pumpen, sei zumindest ein Anfang, auch wenn das nicht der große Red-Sea-Dead-Sea-Kanal sei – ein umstrittenes Milliardenprojekt, das bislang in der Planung stecken blieb. Natürlich halte er es für ebenso notwendig, den Zulauf aus dem Jordanfluss zu verbessern. Aber dafür brauche man öffentlichen Rückhalt, sagt Papai. „Deshalb sollten wir es der Allgemeinheit ermöglichen, die Senklöcher mit eigenen Augen zu sehen.“ Eindrucksvoll sind sie allemal. Nicht nur Forscher sind von den Einblicken in tiefe, Tausende Jahre alte Erdschichten fasziniert. Die Brühe, die in manchen Spalten schwimmt, schimmert mal grünlich, mal rot oder schwarz. Für das wechselnde Farbenspiel sorgen Bakterien, Eisenoxide und aufgewirbelter Schlamm.

Die Umweltsünden sind mannigfaltig

Aber ob wegen der Senklöcher Touristen die Kibbuz-Herbergen wieder füllen? Daran hat Gundi Shahal ihre Zweifel. Vor allem stört sie die Vorstellung, dass feste Holzstege zur Besichtigung gebaut werden könnten. „Die Landschaft verändert sich hier von Tag zu Tag“, sagt sie. Wenn schon, dann müsse etwas her, vielleicht flexible Planen, das sich schnell wieder verlegen lasse. Eigentlich findet sie es „krank“, das Projekt als Ökotourismus auszugegeben. „Dass das, was hier zu sehen ist, die Folge von umweltschädigendem Verhalten ist, wird nicht gesagt“, kritisiert sie.

Die Umweltsünden sind mannigfaltig. Der Jordan, der von Norden her ins Tote Meer mündet, ist nur noch ein trübes Rinnsal, weil seine Anrainerstaaten – Israel, Jordanien und Syrien – das Flusswasser größtenteils abzapfen. Im Süden lassen Industrieanlagen Wasser aus dem Toten Meer in künstlichen Becken verdunsten, um Magnesium und Pottasche zu gewinnen. Die Fabriken – Dead Sea Works auf israelischer Seite und APC auf jordanischer – sollten wenigstens für den Wasserverbrauch bezahlen, findet Shahal, die Aktivistin von Eco Peace, einer grenzübergreifenden Umweltorganisation. Sozusagen als Anreiz, um sparsamere Methoden bei der Mineralienausbeutung zu entwickeln.

Schon zu biblischen Zeiten scheint man die Senklöcher gekannt zu haben

Doch alle denkbaren Maßnahmen sind nicht genug, die Erosion zu stoppen. Dem Toten Meer fehlen 800 Millionen Kubikmeter Wasser. Auf maximal die Hälfte kommen die diversen Sanierungsszenarien zusammen. Wahrscheinlich wird das Tote Meer nie mehr so werden, wie es mal war. Allerdings scheint man schon zu biblischen Zeiten Probleme mit Senklöchern im Tal Siddim gekannt zu haben. „Und die Könige von Sodom und Gomorra wurden in die Flucht geschlagen und fielen da hinein, und was übrig blieb, floh auf das Gebirge“, heißt es im 1. Buch Moses, Kapitel 14.

Wer heutzutage reinfällt, hat zumindest gute Chancen, rausgeholt zu werden. Beim Kaffee in ihrer Küche erzählt Gundi Shahal von kritischen Rettungsaktionen, zu denen auch ihre Familie immer wieder ausrückt. Zuletzt im benachbarten Mitzpe Schalom, wo ein junges Paar auf dem Weg zum Strand in eine schmale Grube eingebrochen war. Sie konnte sich alleine befreien, er steckte unten fest. Von einem aufgespannten Dreifuß ließ sich ein Retter der Kibbuz-Bergwacht hinab und zog den Verletzten am Gurt hinaus.

Inzwischen weiß man genauer, wo die Gefahren lauern

Eli Raz, ein Geologe, der vor einigen Jahren bei der Vermessung eines Senklochs neun Meter tief hineingerutscht war, musste zwölf Stunden dort ausharren – ohne Handy-Empfang und ausreichend Trinkwasser, bis man ihn fand. Inzwischen weiß man genauer, wo die Gefahren lauern. Doch ob sich die Naturkatastrophe oder der menschliche Durchhaltewille auf Dauer als stärker erweisen wird, bleibt offen.