Die Toure de France ist aus deutscher Sicht wieder interessant: Es gibt deutsche Teams, deutsche Fahrer können Etappen gewinnen und die ARD überträgt das Spektakel.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Utrecht - Weil so eine Tour de France die größte Bühne der Radsportwelt ist, ist das natürlich auch eine Verpflichtung für alle, die auf dieser Plattform sein dürfen. Und so will auch das deutsche Zweitligateam Bora-Argon 18, das eine Wildcard für die Tour de France erhalten hat, vor dem Start zeigen, was es so hat. Eine Küche. Aber natürlich nicht irgendeine, sondern einen „Küchentruck“, ein verglaster Lkw-Anhänger mit voll funktionsfähiger Küche darin. Warum? Darum: der Namenspatron Bora aus dem bayerischen Raubling stellt Dunstabzugshauben her (Argon 18 ist ein Radhersteller).

 

Und so steht an diesem Freitagmittag vor dem Hotel Oud London in Zeist bei Utrecht also dieser Truck, und dahinter ein großer Kran. Denn, das ist der Clou, das alles geht alsbald in die Luft, also nach oben. Das sorgt vor dem Hotel für ziemlich Aufsehen. PR-Coup geglückt. Das Team ist zum ersten Mal bei der Tour dabei, strahlende Gesichter allenthalben, Teamchef Ralph Denk sagt, er sei stolz, nur die Fahrer sind etwas zurückhaltend, sie haben Respekt vor dem, was da kommt. Die Tortur Tour.

Die anstehende Quälerei ist eine Auszeichnung für die Arbeit des Rennstalls um Dominik Nerz und den deutschen Meister Emanuel Buchmann, und dass die Equipe eine Wildcard erhalten hat, ist auch eine Auszeichnung für die Entwicklung des deutschen Radsports. Man spricht deutsch. Wieder.

Deutsche Fahrer können die Tour mitprägen

Zum Start der Tour de France an diesem Samstag in Utrecht ist das deutsche Element so groß wie seit Jahren nicht mehr, seit den Zeiten eines Jan Ullrich: Mit Bora-Argon 18 und Giant-Alpecin sind gleich zwei Teams mit deutscher Lizenz am Start. Auch ohne den nichtnomierten Marcel Kittel könnten deutsche Fahrer die Tour mitprägen, Tony Martin zum Beispiel hofft zum Auftakt auf das Gelbe Trikot, John Degenkolb ist nach seinem brillanten Frühjahr heiß auf Etappensiege und will um das Grüne Trikot des besten Sprinters kämpfen, André Greipel ist immer gut für einen Etappensieg, vielleicht schon am Sonntag. Und das alles gibt es in der ARD, die erstmals seit 2011 wieder Livebilder zeigt.

Die Tour 2015 mit dem Kennzeichen D.

Es ist erstaunlich. Mehr noch: es ist ein Wunder. Der Radsport war die Kloake des Spitzensports. Schmutz. Überall. Die ARD stieg 2011 aus, zuviel Doping, und natürlich waren auch die Quoten mies. Warum also Geld in ein System ohne Kläranlage pumpen? So sahen das auch andere. Sponsoren, Rennveranstalter. Deutschland zog sich zurück. Der „Dexit“ aus dem Radsport.

Der Radsport hat weltweit Probleme, der Fuentes-Skandal, der Sturz von Lance Armstrong und so weiter. Die Branche war für die Öffentlichkeit nur noch eine Skandalnudel, ein dankbares Opfer, wie das sprichwörtliche Backpfeifengesicht, das geradezu danach bettelt, geprügelt zu werden. Nirgends aber hinterließen all die Skandale derartige Ruinen wie in Deutschland. In traditionellen Radsportländern wie Spanien, Italien, Frankreich oder den Beneluxländern schütteln sie bis heute den Kopf über den deutschen Dopingfuror. Die lange Liebe zum Radspoprt hielt und hält dort, und sie hält viel aus, anders als im Radsportneuland Deutschland, das erst durch Jan Ullrich seine Zuneigung entwickelte – dann aber mit voller Wucht.

Im Aufschwung wie im Niedergang.

Die Liebe kehrt ganz langsam zurück. Weniger stürmisch, etwas distanzierter, behutsamer, gesünder. Alles ist ein paar Nummern kleiner als in jenen Jahren, als Jan Ullrichs Winterspeck noch bundesweites Interesse hervorrief und die Tour für beste Quoten im umkämpften Vorabendprogramm sorgte. Die ARD machte sich gemein mit dem Team Telekom. Verbotene Liebe. Die Liaison gilt als Sündenfall des öffentlich-rechtlichen Sportfernsehens.

Die ARD ist wieder da

Nun ist die ARD wieder da. Das Team ist übersichtlicher, kein Vergleich zu früheren Jahren, und Experten gibt es auch keinen. Es ist ein Versuch. Mal schauen, wie der Radsport so angenommen wird. Die eingefleischten Liebhaber werden vielleicht bei Eurosport bleiben, weil die der Tour immer treu waren, fachkundig kommentieren, und das D-Wort nur dosiert einsetzen.

Laut Umfragen gaben im Jahr 2006 noch 40 Prozent an, sich für die Tour de France zu interessieren. In jenem Jahr platzte dann die deutsche Radsportblase mitten im Sommermärchen, als Jan Ullrich wegen der Fuentes-Affäre suspendiert wurde. Das Interesse sank bis auf den Tiefstwert von 19 Prozent im vergangenen Jahr. Jüngsten Umfragen zufolge ist es nun wieder auf 25 Prozent gestiegen. Eine Trendwende? Zumindest könnte es so sein.

Gelb ist die Hoffnung. Die Fans (und die ARD wohl auch) hoffen auf einen Sieg von Tony Martin am Samstag (14 Uhr/Eurosport, die ARD überträgt ab circa 16.05 Uhr) in dem Auftakt-Zeitfahren der Tour. Martin startet um 16.44 Uhr, er hat sich gezielt auf den 13,8 Kilometer langen Stadtkurs vorbereitet. Er gilt als großer Favorit, aber auch der Schweizer Fabian Cancellara oder der Niederländer Tom Dumoulin in deutschen Diensten (Giant-Alpecin) machen sich Hoffnungen auf diesen prestigeträchtigen Sieg und die Option, das Gelbe Trikot vielleicht einige Tage tragen zu können.

Deutschland ist der wichtigste Markt

Es gibt ein großes Interesse an Deutschland im Radsport, was vor allem wirtschaftliche Gründe hat: Deutschland ist der größte und damit wichtigste Markt für die Branche. Der mächtige Tourveranstalter Aso hat deshalb neben vielen anderen hinter den Kulissen darauf hingewirkt, dass die ARD zurückkehrt; der Aso-Chef Christian Prudhomme hat sogar einen möglichen „Grand Depart“, also einen Tourstart, in Deutschland in Aussicht gestellt – wenn alles so weiter geht in „Allemagne“.

Für Sponsoren und damit für die Entwicklung des Standortes Deutschland ist die Plattform ARD ungemein wichtig. Die Reichweite der öffentlich-rechtlichen Anstalt mit dem „Zuschauerbeifang“ ist unerreicht, während man auf Eurosport vor allem vor einem Fachpublikum wirbt. , „Ich habe lange dafür gekämpft, dass die deutschen Kameras wieder auf uns gerichtet sind“, sagt der achtfache Tour-Etappensieger Marcel Kittel, der von seinem Team Giant-Alpecin nach seiner langwierigen Viruserkrankung nicht nominiert wurde; was den Sprintstar übrigens nachhaltig verstimmt hat.

2014 haben deutsche Fahrer sensationelle sieben Etappen bei der Tour gewonnen, und nur wenig ist attraktiver als Erfolg, auch in diesem noch immer teils dubiosen Umfeld. Aber genauso wichtig ist: Fahrer wie Kittel, Degenkolb oder Martin haben eine neue Vertrauensbasis geschaffen. Sie haben sich öffentlich vehement für ein Antidopinggesetz ausgesprochen und verkörpern eine Generation , die anders sozialisiert und sensibilisiert wurde. Dass es noch genügend Fans wie auch Experten gibt, die die Reinheit auf Rädern anzweifeln, liegt in der Natur der Sache.

Es läuft prächtig

Willi Bruckbauer, der Gründer von Bora, steht vor seinem „Küchentruck“ in Zeist, lächelt glückselig. Es läuft prächtig, und zwar alles. „Wir haben ein Produkt, das in jede Küche passt und jeder braucht – aber wir hatten ein Problem: keinen Bekanntheitsgrad.“ Radsport kann da eine lohnende Investition sein. Für vergleichsweise wenig Geld ist ein Teampatronat zu haben. Bora etwa soll dafür 3,5 Millionen Euro zahlen. Dafür bekommt man viele Werbeminuten und ein Team, das den Firmennamen trägt. Das Risiko? Das Risiko ist, dass einem alles um die Ohren fliegt, wenn es Dopingfälle im Team gibt oder das Image des Radsports durch Skandale andernorts abermals den Sinkflug antritt.

Für Bora, sagt Bruckbauer, sei das Engagement schon jetzt ein riesen Erfolg. Früher umfasste der Pressespiegel ein paar hundert Artikel, nun sind „Umzugskisten“ (Bruckbauer). Und nach den Frühjahrsklassikern seien seine belgischen Außendienstler mit Anfragen überhäuft worden.