Die Tour de France rollt am Dienstag bei der vierten Etappe über das berüchtigte Kopfsteinpflaster. Da sind Stürze vorprogrammiert – und schon so mancher Radprofi hat hier entscheidende Sekunden oder gar Minuten verloren.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Cambrai - Die besten Plätze sind an diesem Morgen auf dem Weg nach Cambrai, Frankreich, schon weg. Wie immer: wer etwas sehen will bei der Tour de France, muss vorausschauend fahren. An der Rui Verchain haben sich in einer Ausbuchtung schon die Campingwagen in Stellung gebracht. Es ist ein gemächlicher Start in den Montag für das Ehepaar Millon, was auch kein Schaden ist, Herr Millon hat sich nämlich am Vorabend ein ordentliches Fläschchen Rotwein gegönnt und ist noch etwas zerknittert, wie er grinsend sagt. Macht nichts. Die beiden haben Zeit. Viel Zeit.

 

An dieser Stelle wird erst am Dienstag gegen 16.30 Uhr laut Marschtabelle etwas passieren. Sie stehen hier unweit der belgischen Grenze etwa 40 Kilometer vor dem Ziel in Cambrai an Sektor fünf von sieben dieser Kopfsteinpflasterpassagen, die auf der vierten Etappe der Tour de France bewältigt werden müssen. 1600 Meter lang ist dieser Abschnitt, es folgen noch vier weitere bis zum Ziel; insgesamt haben die Fahrer 13,3 Kilometer vor sich. „Einer der Höhepunkte der Tour“, sagt Monsieur Millon.

Es ist die Hölle auf Rädern.

Unter den Rädern tut sich eine Kraterlandschaft auf

Viele Fahrer fürchten diese Etappe, die mit 223,5 Kilometern auch die längste der Tour 2015 ist. Sie ist eine gefährliche Prüfung für Mensch und Maschine, schwere Stürze sind praktisch programmiert.

Man darf sich dieses Kopfsteinpflaster (französisch pavé) nicht vorstellen wie den mehr oder weniger akkurat verlegten Straßenbelag im Stuttgarter Heusteigviertel.

Unterm Rad – das ist in Nordfrankreich eine Kraterlandschaft. An manchen Stellen sieht der Untergrund aus, als habe jemand beim Puzzlen die Lust verloren und willkürlich die einzelnen Pflastersteine aneinandergelegt, ob sie passen oder nicht. Es klaffen vielerorts große Lücken zwischen den Steinen, notdürftig gefüllt mit Sand und Rollsplit. Viele werden versuchen, am Rand neben den Steinen zu fahren, um weniger durchgerüttelt zu werden. Regnet es, gleicht hier alles einer rutschigen Lotterie, bei Hitze staubt es so, dass das Stuttgarter Neckartor mit seinen Feinstaubwerten im Vergleich einem Luftkurort gleichkommt.

Das Leiden gehört zum Wesen der Tour

Von dem Formel-1-Grand-Prix in Monaco heißt es, dass dies sei, als würde man mit einem Hubschrauber durchs Wohnzimmer fliegen. Das Monaco des Radsports ist das Kopfsteinpflaster Nordfrankreichs. Die Fahrer navigieren bei Höchstgeschwindigkeit durch ein steinernes Minenfeld. Aber, oder auch genau deswegen, ist es unersetzbar. Wie Monaco. Es ist Teil des Wesens dieses Sports. Das Epos vom Leiden ist der Gründungsmythos der Tour. Und hier werden oft große, ja epische Dramen geschrieben, die der Treibstoff dieser Show auf Rädern sind. Aus ihnen zieht die Frankreich-Rundfahrt einen großen Teil ihrer Faszination – allen großen Skandalen zum Trotz.

Die Pavés bedienen seit Jahrzehnten auch die Sensationslust des Zuschauers, heute vielleicht sogar mehr denn je. Die Tour ist schließlich mehr denn je ein kommerzielles Produkt, ein Teil der Entertainmentindustrie. Und sie muss liefern. Jahr für Jahr. Deshalb baut sie verstärkt solche Etappen ein, um das Rennen in der ersten Woche spektakulärer zu gestalten.

Robuste Fahrer sind im Vorteil

Das Problem ist, dass Kopfsteinpflaster nicht für jeden geeignet ist. Auf den Pavés sind robuste Fahrer wie Paris-Roubaix-Sieger John Degenkol, Alexander Kristoff oder Peter Sagan gefragt. Die Rundfahrer meiden das Jahr über die Pavés. Bei der Tour haben die Klassementfahrer aber keine Wahl, auch Bergflöhe wie Nairo Quintana und Co. müssen drüber. Die Favoriten haben im Vorfeld das Terrain gesichtet und sich vorbereitet, so gut es eben geht.

Hier kann man die Tour nicht gewinnen, aber sie mit etwas Pech verlieren. 2014 hatte Alberto Contador auf der Kopfsteinpflasteretappe mehr als zwei Minuten Rückstand auf den späteren Toursieger Vincenzo Nibali. 2010 ging es durch den berüchtigten Wald von Arenberg, und die Tour verlor Mitfavorit Frank Schleck mit einem Schlüsselbeinbruch. „Das war eine leichtfertige, sinnlose Gefährdung unserer Gesundheit“, sagte Jens Voigt damals.

Jens Voigt fährt nicht mehr, heute sagt er: „Für die Fahrer ist es das Allerletzte – für uns Zuschauer ein Spektakel, ein Drama.“