Die Wanderung auf dem Martinusweg birgt Überraschendes: In Dätzingen gibt es ein Schloss des Malteser-Ritterordens zu sehen und in Weil der Stadt hat ein Glasmaler in der Stadtkirche dem Satan Hitlers Gesichtszüge gegeben – im Jahr 1939.

Ludwigsburg und Rems-Murr : Martin Willy (ily)

Böblingen/Weil der Stadt - Claus-Petter Giffhorn hat doch mehr zu tun als erwartet. Sein Gasthaus Zum Hirsch in Sindelfingen (Kreis Böblingen) ist eine Anlaufstelle für die Pilger auf dem Martinusweg (www.martinuswege.de). In der benachbarten evangelischen Martinskirche liegt ein Hinweisschild. Darauf ist zu lesen, dass sich die Wanderer im „Hirsch“ den Stempel für ihren Pilgerausweis abholen können. „Das passiert jede Woche auf jeden Fall ein bis zwei Mal“, sagt der Wirt. Nicht nur er findet das beachtlich, ist die Route doch noch sehr jung in der Region: Der katholische Bischof Gebhard Fürst hat den Abschnitt durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart erst vor vier Jahren eröffnet.

 

Martin von Tours – ein Heiliger steht für Europa

Der Gesamtweg geht quer durch Europa, von der Geburtsstadt des heiligen Martin im ungarischen Szombathely führt er bis zur Grablege im französischen Tours. Der Europarat hat die Via Sancti Martini bereits vor zehn Jahren in die Liste der Kulturwege aufgenommen. Das ist wenig überraschend. Martin von Tours (316/17 bis 397) gilt als Heiliger Europas. Das spiegelt schon seine Biografie wider: im ungarischen Szombathely geboren, aufgewachsen im oberitalienischen Pavia, führte ihn sein weiteres Leben ins französische Amiens, nach Worms, auf den Balkan, nach Mailand, Genua, Rom, Trier, Paris und zuletzt Tours, wo der asketische Mönch zum Bischof gewählt wurde. Als Gründer der ältesten Klöster Europas hat Martin die abendländische Christenheit mit ihren Werten nachhaltig geprägt – bis heute.

Und die Geschichte des römischen Soldaten, der hoch zu Ross mit dem Schwert seinen weiten Mantel mit einem Bettler, teilt und diesen dadurch vor dem Erfrierungstod rettet, kennt eigentlich jedes Kind. Bekannt für seinen Gerechtigkeitssinn und seine Barmherzigkeit klingt Martins Maxime im heutigen Europa aktueller denn je: Wendet euch den Schwächsten, Verfolgten und Bedrückten zu.

Bronzeskulptur vor Sindelfinger Martinskirche

Die Szene der Mantelteilung begegnet dem Wanderer auf der rund 20 Kilometer langen Etappe von Böblingen nach Weil der Stadt nach den ersten gut vier Kilometern. Mit der S-Bahnlinie S1 am Böblinger Bahnhof angekommen, geht man linker Hand die Talstraße entlang bis zur Kreuzung mit der Sindelfinger Straße, in die man links einbiegt. An der Stange eines Verkehrszeichens auf der rechten Fahrbahnseite ist auch eines der ersten Wegzeichen zu sehen, die die Pilgerstrecke markieren: ein gelb-oranges Kreuz auf dunkelrotem Grund (allerdings ist es auf der Gesamtstrecke nicht immer leicht zu finden). Das Signet führt in Sindelfingen bis in die Stiftstraße. Die dortige evangelische Martinskirche zählt zu den ältesten Gotteshäusern Baden-Württembergs. Die hochromanische Pfeilerbasilika wurde bereits im Jahr 1083 geweiht. Die Bronzeskulptur auf dem Kirchplatz ist 900 Jahre älter und zeigt die berühmte Szene der Mantelteilung im Licht des Künstlers Fritz Nuss: Der Heilige begegnet dem Bettler nicht mehr vom „hohen Ross herunter“: Hilfe, Solidarität und Rettung auf Augenhöhe.

Hinter der Martinskirche geht es die Wurmberg- und dann die Bachstraße hinunter in Richtung Daimler-Gelände, dann über die Kreuzung Fronäcker. Auf dem Mittelpfad geht es immer weiter hinaus aufs freie Feld, raus aus der Industriestadt, hin zu Wiesen und Äckern. Am Ortsausgang von Döffingen lohnt sich ein rund 1,5 Kilometer langer Abstecher nach Dätzingen zum Malteserschloss, das von 1263 bis 1805 im Besitz des Ritterordens war. Dessen Wahlspruch „Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“ steht ebenfalls in bester Martinstradition.

Stadtkirche Weil der Stadt: Satan trägt Hitlers Gesichtszüge

Vom Malteserschloss geht es zurück nach Döffingen und von dort über Schafhausen direkt nach Weil der Stadt. Werden die Beine auf der flachen stets asphaltierten Strecke müde, dann kann man an verschiedenen Haltestellen in die Omnibuslinie 766 steigen und nach Weil der Stadt weiterfahren. Dort wartet in der Stadtkirche St. Peter und Paul etwas sehr Bemerkenswertes: In dem katholischen Gotteshaus gibt es ein Glasfenster (rechtes Querhaus, obere Bildreihe, drittes Fenster von links). Darauf sind unverkennbar die Gesichtszüge Adolf Hitlers zu sehen. Der Künstler JoKarl Huber hat die sogenannte Versuchung Jesu dargestellt, von der die Evangelien berichten. Vor seinem öffentlichen Wirken wird Jesus 40 Tage lang in der Wüste auf die Probe gestellt. „Dort sollte er vom Teufel in Versuchung geführt werden“, heißt es etwa bei Matthäus. Er soll Gott leugnen und anderen Götzen folgen, die ihm die Macht dieser Welt verschaffen sollen. „Weg mit dir, Satan“, ruft Jesus am Ende der Szene. Dem Versucher hat Huber das Profil Hitlers gegeben, und zwar im Jahr 1939. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Glasmaler bereits Berufsverbot, „entartet“ nannten die Nazis seine Kunst. Die Konsequenz für Huber, Jahrgang 1902, folgte bald: die Nazis schicken ihn 1941 in den Krieg. Doch er überlebte den Weltenbrand und arbeitete danach als Professor an der Kunstakademie München. 1996 ist er gestorben.

Das mittelalterlich anmutende Weil der Stadt mit seinen jahrhundertealten Stadtmauern und Wehrtürmen (www.weilderstadt.de) hat noch viel mehr zu bieten: Die Stadt ist der Geburtsort des großen Astronomen Johannes Kepler und des württembergischen Reformators Johannes Brenz. Wer sich von Weil der Stadt losreißen kann, und nach Böblingen zurückkehren will, der kann die S-Bahnlinie S6/S60 nutzen – mit Umsteigen in Renningen. Eine Alternative ist die Buslinie 766. Sie empfiehlt sich, wenn man von der Gegend und den Ortschaften noch etwas sehen möchte.