Vor 50 Jahren wurde knapp fünfzig Kilometer westlich von Leipzig der Grundstein gelegt für Halle-Neustadt, ein sozialistisches Vorzeigeprojekt der DDR. Heute ist die Trabantenstadt leer und vergreist.

Halle - Die Kinder nesteln nervös an ihren Kleidern herum. Ihre Zeit in der Kindertagesstätte Goldener Gockel in Halle-Neustadt geht dem Ende zu. Nach dem Sommer werden sie die erste Klasse besuchen. Beim Abschiedsfest bieten sie ihren Eltern im Kitagarten noch eine kleine Vorführung. „Auf Wiedersehen, wir dürfen in die Schule gehen und keine Zeit verträumen“, singen die Kleinen. Die Eltern sitzen auf Bierbänken und hören gerührt zu. Die Kindergartenleiterin Heike Schlegelmilch erlebt Abschiedsfeiern wie diese eher mit schmerzenden Gefühlen. Sie weiß, dass diese Kinder wenig Aussicht haben auf eine gute Zukunft.

 

Nur wenige Eltern filmen ihr Kind mit dem Smartphone. So etwas kann sich nicht jeder leisten. Die meisten Familien hier beziehen Arbeitslosengeld. Heike Schlegelmilch schätzt den Anteil auf 90 Prozent. „Einige Kinder leben in Familien, die jetzt schon in der zweiten oder dritten Generation arbeitslos sind. Die wissen gar nicht, was Arbeit ist“, sagt sie. Im Hort des Goldenen Gockels, wo Schulkinder bis zur vierten Klasse nachmittags betreut werden, kann sie den Werdegang der Kinder verfolgen. „Dort sehe ich dann, wie viele wegbrechen“, sagt sie. Keine vernünftigen Schulmaterialien, gemobbt wegen billiger Klamotten und womöglich verhaltensauffällig, weil die Eltern zu Hause ihr Kind nicht in den Griff bekommen. „Die Spirale dreht sich jedes Jahr nach unten weiter“, stellt sie traurig fest.

Ein Vorzeigeprojekt der DDR

Eine Spirale, die einen ganzen Stadtteil erfasst hat. Vor 50 Jahren wurde knapp fünfzig Kilometer westlich von Leipzig der Grundstein gelegt für Halle-Neustadt, ein sozialistisches Vorzeigeprojekt der DDR. Anfang der 80er Jahre wohnten in der Trabantenstadt mehr als 93 000 Menschen. Nach der Wende verlor Neustadt fast die Hälfte seiner Einwohner. Heute gelten seine Bezirke als Problemviertel, mit Arbeitslosenquoten von bis zu 16 Prozent und verfallenden Plattenbauten. 68 Prozent der Kinder leben in Familien, die Hartz IV beziehen.

Für Heike Schlegelmilch ist wichtig, dass ihre Kitakinder zum Abschied Geschenke bekommen. Es gibt Schiffchen, Mini-Rasenmäher und Sandkasten-Spielzeug, alles aus buntem Plastik von Mäc-Geiz, einem Haushaltswaren-Discounter. Außerdem kriegt jedes Kind eine Schultüte mit Mäppchen, Füller, einem Lexikon und Süßigkeiten. Ein Firmensponsor macht das möglich. In der DDR gab es die „Patenbrigaden“, eine Zusammenarbeit von Kitas und Firmen. Diese letzte Form der Solidarität ist geblieben. Schlegelmilch kennt den Firmenchef noch von früher.

Wer konnte, zog weg

Die Hoffnung, dass es in Neustadt wieder anders werden könnte, hat sie nicht mehr. Dafür fehle der Stadt einfach das Geld. Der hintere Teil des Kitagebäudes zeugt davon: Die Außenwände durchziehen Risse, an den Fenstern blättert der Lack ab, vereinzelt sind die Wände mit Graffiti beschmiert. „Innen hat die Stadt das gemacht, was notwendig ist, außen sieht es noch so aus wie vor der Wende“, sagt Schlegelmilch, die seit 1987 für den Goldenen Gockel arbeitet. Mit 235 Kindern ist die Kita die größte der Awo in Neustadt.

Früher hat Schlegelmilch auch in Neustadt gewohnt, nur hundert Meter vom Gockel entfernt. 2005 zog sie dann in die Altstadt. Sie konnte die Armut nach der Arbeit nicht mehr sehen, wie sie sagt. Wenn sie etwas aus Neustadt brauche, schicke sie ihren Mann zum Einkauf. „Neustadt ist anders geworden“, sagt sie, leer, vergreist, anders, als sie es von früher kennt. „Wer nach der Wende wegziehen konnte, hat es getan.“

Die Wohnkultur im Plattenbau

Rüdiger Gland ist geblieben. Der 74-Jährige lebt seit 1968 im selben Plattenbau, einer „aufgestellten Zigarrenkiste“, wie er ihn nennt. Er trägt Joggingschuhe, Jeans und Polohemd. Von seinem Balkon im neunten Stock überblickt er ganz Neustadt: ein Wald von Windrädern zur Linken, ein Meer aus Platte zur Rechten. Viele Gebäude haben wegen ihrer Bauweise von den Bewohnern Namen bekommen: Blaues Wunder, Dreckiger Löffel, Krummer Hund.

Der gebürtige Thüringer fühlt sich hier wohl, seit ihm als Verfahrenstechniker im Chemiewerk Buna die Wohnung in Neustadt 1968 zugeteilt wurde. Ein Jahr lang musste er darauf warten. „Für mich ist Neustadt immer noch eine Stadt und kein Stadtteil“, sagt er. Er habe alles, was er brauche. Im Umkreis von 700 Metern befinden sich zwölf Discounter. Das habe er nachgemessen. „Ich wohne hier sehr repräsentativ“, sagt er. Denn die Wohnung mit dem Zuschnitt P2-12 war die häufigste in den Neustädter Häusern: drei Zimmer, Küche, Bad, alles auf 56 Quadratmetern. An Miete zahlt er 240 Euro warm. „Kalt sind es nur zwei Euro vierzig pro Quadratmeter.“

Enge macht erfinderisch

Wer auf engem Raum lebt, muss erfinderisch sein: Im Flur sind bis unter die Decke Bücherregale geschraubt, in der Küche gibt es keine freie Wandfläche. Aber das stört Gland nicht. „Für mehr Platz hätte ich früher ein bisschen fleißiger arbeiten müssen“, scherzt er. Nur die fehlende Dämmung stört ihn. „Im Sommer hast du hier nachts über 30 Grad.“

Früher, zu Lebzeiten seiner ersten Frau, hatten sie eine Fünfzimmerwohnung im selben Haus – sie war eigentlich zu groß für die beiden und ihren Sohn. Da sei er schon öfter zum Vorstand der Genossenschaft bestellt worden. „Aber mit denen konnte ich ganz gut“, flachst er. Gland ist immer noch Mitglied der ehemaligen Arbeiterwohnungsgenossenschaft, heute BWG Halle-Merseburg. Ihre Werbeplakate für günstigen Wohnraum hängen in der ganzen Stadt.

Das kleinste Zimmer in Glands Wohnung war von den Planern als Kinderzimmer gedacht. Hier hat er seine zweite Frau gepflegt, bis auch sie an Krebs starb. Kennengelernt hat er sie im Haus, sie wohnte im neunten Stock, wo Gland jetzt wohnt. Als auch sie ihren Partner verloren hatte, fanden die beiden zueinander. „Ich habe meine beiden Frauen bis zum letzten Atemzug gepflegt“, sagt er.

Der Zusammenhalt war früher stärker

Im Kinderzimmer hängen Bilder von Glands Sohn, den Stieftöchtern und deren Kindern. Hier sammelt er in Ordnern alles Mögliche über Neustadt: Zeitungsartikel und etliche Fotos von damals, als er noch von Baustellen umzingelt war. Was hat sich verändert? „Der Zusammenhalt der Leute war früher stärker“, sagt er. Da sei man morgens gemeinsam mit dem Bus zur Arbeit gefahren und abends wieder zurück. „Heute habe ich schon Probleme, jemanden zu finden, der die Blumen gießt, wenn ich mal weg bin.“

Zum Beweis kramt er ein Stück Papier aus einem Ordner, auf dem er einen Mietspiegel von Block 401, dem Nachbarhaus, aufgezeichnet hat. Die Erstbezieher von vor 50 Jahren hat er rot markiert. Auf der einen Seite aus dem Jahr 2006 hat das Blatt neun rote Namen von insgesamt 40 Parteien. 2013 sind es nur noch zwei. „Die anderen sind gestorben oder wegen Altersschwäche zu ihren Kindern gezogen.“

Auch seine Kinder haben mit Neustadt abgeschlossen. Sein Sohn lebt in München, seine Stieftöchter in Dresden und im besseren Stadtviertel Heide-Süd. „Die sind alle hier groß geworden und fragen mich trotzdem immer wieder, ob ich nicht doch wegziehen wolle“, sagt Gland und schüttelt den Kopf. Er will hier bleiben bis zum Ende.

Der Lemminge-Effekt

Der Altersdurchschnitt der westlichen Neustadt liegt mit 51 Jahren sechs Jahre über dem von ganz Halle. Bald nach der Wende begann der Exodus. „Das war ein richtiger Lemminge-Effekt“, sagt Detlef Friedewald. Er ist im Stadtplanungsamt zuständig für Neustadt. Auf seinem Schreibtisch türmen sich Karten und Grundrisse. Auch wenn Friedewald selbst nicht aus Neustadt stammt und erst seit 2008 hier arbeitet, ist ihm der Stadtteil ans Herz gewachsen. Es sei ein „ein lebendes, städtebauliches Museum“, sagt er, mit allem, was vor 50 Jahren architektonisch en vogue war: moderne Architektur, Funktionalismus, Neues Bauen.

Unter dem Stadtplaner Richard Paulick wuchs eine Stadt heran, die aus in sich geschlossenen Wohnkomplexen von langen Zeilenbauten bestand. Ziel Paulicks war, Arbeit und Wohnen zu trennen. Das Motto lautete „Licht, Luft, Sonne“. Halle-Neustadt war Experiment, Lebensart und Provokation zugleich. Friedewald kannte einige der Architekten persönlich. „Das waren euphorische Menschen, die davon überzeugt waren, dass sie mit ihrem Typ Stadt den Menschen und die Welt verändern.“

Bürgervereine wehren sich gegen Abriss

Von diesem Traum ist nicht mehr viel übrig: Das Neustädter Zentrum liegt brach, die Einkaufspassage dominieren Discounter wie Kik und Tedi. Vier der fünf berühmten 18-Stöcker, auch „Scheiben“ genannt, stehen seit Jahren leer und verwahrlosen. Früher waren sie Wohnheime. Um sie zu erhalten, musste die Stadt einen hohen fünfstelligen Betrag in die Hand nehmen – Geld, das sie von den Besitzern wohl nie wieder zurückbekommen wird. Für eine Sanierung müsste man mit den Besitzern sprechen. Die schweigen aber beharrlich. Der Oberbürgermeister brachte mal einen Abriss ins Spiel, doch dagegen liefen Bürgervereine Sturm. Für Friedewald sind die Scheiben „das Fragezeichen der Stadt“.

Durch Rückbau konnte Halle den Wohnungsleerstand reduzieren. Standen 2001 noch 10 000 Wohnungen von 33 000 leer, waren es 2012 nur noch 4500. Es fehlten vor allem Vier- und Mehrraumwohnungen. Ein Problem, das schon 1985 die Stadtplaner der DDR erkannt hatten. Getan wurde aber nichts. Nach der Wende hätte die Stadt noch reagieren und die Grundrisse der Wohnungen vergrößern können. „Stattdessen hat man das Geld in Parkplätze und Grünanlagen gesteckt, in dem Glauben, dass es besser wird, wenn man das Drumherum schöner macht.“ Als die Bewohner merkten, dass es nicht besser wird, zogen sie weg. Erst zwei- bis dreitausend pro Jahr und von 1996 an dann bis zu 5000 im Jahr. Der Lemminge-Effekt.

Miete fließt von der Arbeitsagentur direkt an den Vermieter

Das zweite Fragenzeichen ist die südliche Neustadt – der letzte Plattenbaublock, der noch in den 80er Jahren gebaut wurde. „Das war der architektonische Sündenfall“, meint Friedewald. Da sei es nicht mehr um Innovation und Modernität gegangen, sondern nur noch um möglichst viel Wohnraum auf möglichst wenig Fläche. Heute ist der Südpark Neustadts größtes Sorgenkind: hohe Kriminalität, der höchste Leerstand – und der höchste Anteil an Wohnungen in Privatbesitz.

Manch Unternehmer hat nämlich nach der Wende das große Geld gewittert und sich eingekauft. Jetzt werden die Wohnungen zu genau dem Betrag vermietet, den die  Arbeitsagentur Hartz-IV-Empfängern zahlt. Oft fließe die Miete direkt von der Agentur zum Vermieter. „Eine wahre Gelddruckmaschine“, findet Friedewald. Die Stadt würde die Wohnungen gerne abreißen, das geht aber nicht ohne das O. K. des Besitzers. „Ich wünsche mir kein Yota Sozialismus zurück, aber hier fehlen dem Staat die nötigen Werkzeuge“, schimpft Friedewald. Er denkt an Enteignung.

Zeichen der Hoffnung

Doch bei allem Frust sieht Friedewald Zeichen der Hoffnung, wenn er durchs Stadtzentrum läuft. Dort steht ein Skaterpark – für den 57-Jährigen Quelle der „tiefen inneren Überzeugung, dass Halle-Neustadt Bestand haben wird“. Hier treffen sich auch Jugendliche aus der Altstadt, hier kommen Jung und Alt zusammen, hier sei die Keimzelle, um den Stadtteil für Familiengründer wieder attraktiver zu machen.

Friedewald wünscht sich einen „Lemminge-Effekt“, nur in die andere Richtung. „Das geht nicht von heute auf morgen, man muss Geduld haben“, sagt er. Das 50 Kilometer entfernte Leipzig macht es gerade vor. Die Medien stilisieren die zweitgrößte Stadt Sachsens zum neuen Berlin: viel billiger Wohnraum, wo sich die jungen Kreativen austoben können. Jährlich wächst die Stadt um 10 000 Einwohner. Ein harter Konkurrent für Halle-Neustadt.