Zehn Schüler und drei Lehrer aus Heilbronn wollen am 15. April 1954 den Krippenstein im Salzkammergut stürmen. Doch die Gruppe kehrt von der Wanderung nie zurück. Der Klassenausflug endet in der Katastrophe.

Region: Verena Mayer (ena)

Heilbronn - Peter Germann redet nicht gern über das, was vor sechs Jahrzehnten geschehen ist. Man kann von Glück sprechen, wenn er einem Treffen zustimmt. Und auch dann muss der Gast, wie sich zeigt, noch bangen, ob der Gastgeber ihn am Besuchstag tatsächlich einlässt. Und wenn er schließlich trotzdem über das redet, was vor sechs Jahrzehnten geschehen ist, ist das also doppeltes Glück.

 

Peter Germann, der jetzt 75 ist, redet gern über sein Hobby, das Angeln. Er erzählt, dass er die Fische noch immer ausnimmt, obwohl seine Augen so schwach sind, dass er kaum noch etwas sieht. Peter Germann redet auch gern über seine andere Leidenschaft, das Sammeln von Autokennzeichen. Er führt den Gast in den Keller, wo die Schilder aus ganz Amerika hängen, und in die Garage zu den Schildern aus dem Rest der Welt. Hinter jedem der bunten Blechstücke verbirgt sich eine Geschichte, die Peter Germann gerne erzählt. Aber wenn er die Geschichte erzählen soll, die er vor 60 Jahren erlebt hat, dann ist Peter Germann gar nicht mehr gesprächig. Dann rollen Tränen über seine Wangen, und er sagt: „Die Erinnerung an dieses Unglück verblasst nie. Das bleibt immer im Gedächtnis, das wird man nicht mehr los.“

Vor sechs Jahrzehnten, am 15. April des Jahres 1954, sind im österreichischen Dachsteinmassiv zehn Schüler und drei Lehrer aus Heilbronn ums Leben gekommen. Sie hatten sich in einem Schneesturm verlaufen und sind erfroren. Der Tod der 13 verlorenen Wanderer bewegte die ganze Republik. Fahnen wurden auf Halbmast gesetzt, Zeitungen versahen ihre Berichte mit einem Trauerflor. Peter Germann hat alles gesammelt, was damals über die Tragödie veröffentlicht wurde. Und er hat sich alles gemerkt, was damals geschah. Die Toten waren seine Kameraden. Mit ihnen und 23 weiteren Sechstklässlern der Knabenmittelschule wollte Peter Germann seine Osterferien im Salzkammergut verbringen. Bei der verheerenden Wanderung war er nur deshalb nicht dabei, weil die Tour anstrengend war und er faul.

Das Wetter am Morgen des 15. April 1954 ist gut. Als die Gruppe um sechs Uhr an diesem Gründonnerstag in ihrer Herberge in Obertraun aufbricht, zeigt das Thermometer relativ milde fünf Grad, die Sicht ist gut. Das erste Etappenziel ist die Schönbergalm. Nach dreieinhalb Stunden kommen die Wanderer an und machen auf 1350 Metern Höhe Rast. In der Seilbahnstation kriegen die Heilbronner heißen Tee und einen guten Rat: umdrehen. Denn inzwischen hat das Wetter umgeschlagen. Es stürmt, und die Sicht auf der schneebedeckten Alm beträgt maximal noch 30 Meter. Doch die Wanderer wollen weiter. Der Klassenlehrer Hans Georg Seiler gilt als gewandter Alpinist. Und die Gruppe, die er anführt, hat er sorgsam zusammengestellt. Nur wer sich bei den Einführungstouren in den Tagen zuvor als fit und geschickt erwiesen hat, darf mit auf den 2109 Meter hohen Krippenstein.

Es muss etwas passiert sein

In der Herberge in Obertraun gibt es um halb sieben Abendbrot. Der österreichische Verwalter ärgert sich, weil die Gipfelstürmer nicht wie ausgemacht pünktlich am Tisch sitzen. Doch bald weicht sein Unmut der Sorge: Es wird doch nichts passiert sein? Er telefoniert alle Hütten ab, in denen die Heilbronner auf ihrer Tour eingekehrt sein könnten. Doch sie sind nirgends zu finden. Als er schließlich erfährt, dass sich die Gruppe trotz des Unwetters nicht von ihrem Ziel, dem Krippenstein, hat abbringen lassen, wird aus der Sorge Gewissheit: Es muss etwas passiert sein. Was dann beginnt, geht als die bis dahin größte Suchaktion in die österreichische Berggeschichte ein.

Wenn Peter Germann von damals spricht, erzählt er von dem vielen Schnee, der in jenen Apriltagen fiel. Es waren Massen. Die Sechstklässler im Tal hatten ihren Spaß. Sie haben Schneeballschlachten geschlagen, Schneemänner gebaut und immer mehr über die immer weiter wachsenden Schneeberge gestaunt. „So ein Wetter haben wir vorher und nachher nicht gesehen“, sagt Peter Germann heute. Dass dieses Wetter auf den Bergen die Hölle sein muss, haben die Schüler am Fuße dieser Berge nicht bedacht. Erst als ihnen die Lehrer nach zwei Tagen beibringen, dass von ihren Mitschülern und Lehrern noch immer jede Spur fehlt, begreifen sie, dass die Wanderung ihrer Kameraden womöglich zu einer Wanderung in den Tod wurde.

Die Helfer, die die Berge des Dachsteinmassivs durchkämmen, werden täglich mehr. Anfangs besteht die Suchmannschaft aus 60 Gendarmen und Alpinrettern, es werden 100, dann 200 und schließlich 400. Sie kommen aus dem ganzen Land und sind so engagiert im Einsatz, dass manche bald selbst Hilfe brauchen, weil sie so erschöpft sind. Mit Sonden erforschen die Trupps meterhoch verschneite Dolinen. Lawinenhunde graben sich durch Berge aus Schnee und schnuppern in Höhlen aus Fels. Die Amerikaner, die Österreich noch besetzt halten, stellen zwei Helikopter bereit. Wegen des schlechten Wetters können sie aber nicht aufsteigen. Erst nach vier Tagen, am 19. April, klart es auf. Der unvorstellbare Sturm ist vorüber, die Sonne scheint. Doch die Vermissten, sie bleiben verschollen. Und bei den Helfern stirbt an diesem Tag endgültig die Hoffnung, die zehn Schüler und ihre drei Lehrer doch noch lebend zu finden.

Peter Germann weiß bis heute nicht, warum er und seine Mitschüler nach dem Unglück nicht sofort heim nach Heilbronn geschickt worden sind, sondern weiter in ihrem Feriendomizil blieben. Ein Platz für Kinder ist Obertraun nach dem 15. April nicht mehr. In ihrem Domizil wird jetzt der Rettungseinsatz koordiniert. Journalisten reisen in den kleinen Ort und streiten sich um die einzige Telefonleitung, über die sie ihre Berichte an die Redaktionen durchgeben können.

Eltern werfen sich auf die Betten ihrer Söhne

Vielleicht wurde die Reise nicht abgebrochen, weil kein Geld verschenkt werden sollte? Vielleicht hat schlicht niemand daran gedacht, eine frühere Rückkehr zu planen? Auf jeden Fall ist Peter Germann noch da, als die Eltern der vermissten Schüler in Obertraun eintreffen. „Das war furchtbar“, sagt er. In seiner Erinnerung sieht er noch heute die Mütter und die Väter, die sich auf die Betten ihrer Söhne werfen. Sie können nicht aufhören zu weinen und müssen doch die Schränke ihrer Kinder ausräumen. „Furchtbar“, wiederholt Peter Germann und reibt seine feuchten Augen.

Die Rückreise findet schließlich einen Tag vor dem ursprünglichen Termin statt, am 23. April. Die Bahn stellt einen Sonderwagen mit verdunkelten und verriegelten Scheiben bereit. Die Schüler sollen vor den vielen Reportern abgeschirmt werden.

Am Tag danach geben die Berge die ersten Leichen frei. Am Morgen des 24. April bleibt der Blick eines suchenden Alpingendarms an etwas hängen: Aus dem Schneefeld vor ihm ragt eine Hand. Wenig später bergen die Helfer die Körper zweier Lehrer und eines Schülers aus Heilbronn. Der Fundort ist weit entfernt vom Krippenstein. Heute weiß man, dass die Gruppe im Schneesturm die komplett falsche Richtung eingeschlagen hat. In einem provisorischen Biwak suchten die durchfrorenen Wanderer noch vergeblich Schutz und irrten dann weiter. Vorneweg die beiden Lehrer mit dem kräftigsten Schüler. In einigem Abstand folgten ihnen sechs Klassenkameraden. Ihre Leichen entdecken die Suchtrupps am Nachmittag des 24. April.

Die neun Toten werden in der Turnhalle in Obertraun aufgebahrt. Am 27. April nimmt der ganze Ort Abschied von den Heilbronnern, die zehn Tage zuvor nicht mehr waren als gewöhnliche Touristen. Anschließend werden die Särge nach Deutschland überführt. Am 28. April finden die nach wie vor aktiven Suchtrupps die Leiche eines weiteren Schülers.

Am 29. April ist die Trauerfeier in Heilbronn. Vor den Särgen ergießt sich ein Meer aus Blumen und Kränzen. Die Kinder aus Obertraun haben Erikasträuße gebunden, die Bergrettungsmänner haben Latschenzweige mitgebracht. Schulen, Kommunen und Vereine lassen ungezählte Gebinde niederlegen. Auch die Journalisten, die wochenlang über die Katastrophe berichteten, senden einen letzten Gruß. Unter den mehr als 10 000 Trauergästen sind der damalige Ministerpräsident Gebhard Müller und sein oberösterreichischer Amtskollege Heinrich Gleißner. Fast 150 Personen werden an diesem Tag auf dem Heilbronner Hauptfriedhof ohnmächtig oder erleiden einen Schwächeanfall.

Vom Schnee eingeweht und für immer eingeschlafen

Am 16. Mai finden die Bergretter in einer Felsnische den neunten vermissten Schüler. Er war vom Schnee eingeweht worden und ist dort für immer eingeschlafen. Und dann, sechs Wochen nach dem Beginn der rastlosen Suchaktion, kann sie beendet werden: Am 28. Mai finden die Helfer auch die letzten beiden Vermissten. In einer Gebirgsmulde zwischen dem Hohen und dem Niederen Speikberg liegen eng umschlungen der Klassenlehrer Hans Georg Seiler und der zehnte Schüler.

Peter Germann sagt über Hans Georg Seiler: „Dieser Lehrer war weltklasse!“ Germann hat das nie anders gesehen, hat nie was auf Seiler kommen lassen. Auch damals nicht, als der Pädagoge plötzlich äußerst dubios erschien: Hat nicht er seine Schüler in den Tod geführt? Die Heilbronner Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen auf. Die Eltern einiger Opfer erwägen eine Klage gegen die Schulbehörde. Ist für die Tragödie wirklich nur die Natur verantwortlich zu machen? Peter Germann und seine Kameraden der 6a schreiben schließlich in der Schülerzeitung: „Herr Seiler war bei Wandertagen und Ausflügen immer sehr vorsichtig und sich seiner Verantwortung bewusst. Man kann hier niemandem die Schuld geben. Sicher ist, dass hier eine höhere Macht eingegriffen hat.“

Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren letztlich ein. Auch die Eltern erkennen, dass ein Prozess ihre Trauer nicht mildern würde. Trotzdem hat der Ausflug, der als Heilbronner Dachsteinunglück bekannt wird, Konsequenzen. Das Kultusministerium verfügt, dass Schulausflüge maximal drei Tage dauern dürfen und gefährliche Gebirgstouren verboten sind.

Peter Germann ist zwei Mal an den Unglücksort seiner Jugend zurück gekehrt. Einmal wanderte er zum Heilbronner Kreuz, das Bergretter in der Nähe des Biwaks aufgestellt haben, wo die 13 Wanderer vergeblich Schutz gesucht hatten. Das andere Mal reiste Germann im April 1994 nach Obertraun: Auf dem Krippenstein gedenken Deutsche und Österreicher des Unglücks, das sich zum 40. Mal jährt. „Dort haben junge Menschen um Tote geweint, die sie gar nicht kannten“, sagt Germann, den dieses Treffen noch heute beeindruckt.

Die ehemaligen Schüler der Heilbronner Knabenmittelschule treffen sich einmal im Jahr auf dem Hauptfriedhof. Dort, beim Felsblock aus dem Dachsteinmassiv, legen sie Blumen nieder. Peter Germann ist nicht dabei. Er mag den Rummel nicht. Er trauert für sich allein um seine Kameraden.