Die EU ehrt den toten Altkanzler Helmut Kohl an diesem Samstag mit einen Trauerakt in Straßburg. Mit dem Euro hat er einen Einigungsschub durchgesetzt, von dem allerdings noch nicht klar ist, ob er die Gemeinschaft überfordert oder endgültig eint.

Berlin - Straßburg ist nicht nur der Ort, an dem an diesem Samstag im Europaparlament die Trauerzeremonie für Helmut Kohl stattfindet. Die Stadt möchte auch dauerhaft an den sechsten Bundeskanzler erinnern, indem die Fußgängerbrücke über den Rhein nach Kehl, genannt „Passerelle des Deux Rives“, den Namenszusatz „Helmut Kohl“ erhält. So hat es der Stadtrat beschlossen. Dass sich die Kollegen auf der deutschen Seite damit noch schwertun, ist vielleicht ein Fingerzeig dafür, wie unterschiedlich Kohls Rolle gesehen wird.

 

Im europäischen Ausland ist der Blick klar positiv, gerade in Frankreich. Die Nachbarn rechnen es Kohl sehr hoch an, dass er gegen Widerstände im eigenen Land die Währungsunion durchgesetzt und Deutschland und Frankreich darüber zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verschmolzen hat, wie die Bundesbank einst schrieb. In Paris gilt der Euro als endgültige Garantie dafür, dass Deutschland sich nie wieder gegen Frankreich stellen kann. Besonders groß war diese Sorge vor einer Wiederkehr Großdeutschlands im Wendeherbst 1989, als Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Programm nur 19 Tage nach dem Mauerfall und ohne Rücksprache mit den Nachbarn die deutsche Wiedervereinigung auf die Tagesordnung setzte.

Währungsunion war umstritten

Auf dem Straßburger Gipfel zehn Tage später schlug dem Kanzler eine so eisige Stimmung entgegen, wie er sie seinen Memoiren zufolge noch nie erlebt hatte. Er überwand sie mit seinem größten europäischen Moment, als er im Gegenzug für das Ja der Nachbarn zur deutschen Einheit Ja zur Einheitswährung sagte, konkret zu einer Regierungskonferenz, die gut zwei Jahre später in den Maastrichter Vertrag mündete, der Geburtsstunde des Euro, der 2002 als Bargeld eingeführt wurde. Wer Kanzlerin Angela Merkel dieser Tage über ihren Vorvorgänger reden hört, stößt immer wieder auf das Wort „Mut“.Die Einheit Deutschlands und Europas nämlich wertete Kohl höher als wirtschaftspolitische Bedenken. Die Währungsunion war Jahre zuvor angedacht und vorbereitet worden – doch stand die Bonner Regierung dem Projekt skeptisch gegenüber, wollte das Einführungsdatum nicht so früh festlegen und vor allem eine parallele Entwicklung hin zur politischen Union, ohne die der Währungsraum nicht effektiv zu steuern sein würde. Im Wendeherbst 1989 fiel dennoch eine Grundsatzentscheidung dafür, auch wenn Kohl im Anschluss weiter für eine parallele politische Vereinigung war, so am 30. Januar 1991 im Bundestag: „Aus meiner Sicht ist für die Bundesrepublik nur die Zustimmung zu beiden gleichzeitig möglich.“

In Maastricht wurden auch wichtige Schritte in diese Richtung gegangen: Aus der Gemeinschaft wurde die Europäische Union, neue Politikbereiche kamen in Brüsseler Zuständigkeit – und aus Deutschen, Franzosen oder Briten wurden EU-Bürger mit Rechten in allen Mitgliedstaaten. Zur wirtschaftspolitischen Steuerung konnten sich die Regierungen jedoch auf nicht mehr verständigen, als einen institutionell relativ schwachen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erarbeiten.

Bundesbank vertrat die sogenannte Krönungstheorie

Kohl stimmte dennoch zu und wurde notgedrungen zum Anhänger der sogenannten Lokomotivtheorie. Sie geht davon aus, dass ein so weitreichender Schritt wie eine gemeinsame Währung eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit auch in anderen Politikbereichen quasi automatisch nach sich ziehen muss. Kohl selbst formulierte das nach seiner Rückkehr aus Maastricht so: „Wenn dieses Europa 1997 oder 1999 eine gemeinsame Währung von Kopenhagen bis Madrid, von Den Haag bis Rom haben wird, wird niemand in einer europäischen Amtsstube den Prozess der politischen Einigung aufhalten können.“Umstritten war das schon damals. Die Bundesbank vertrat die sogenannte Krönungstheorie, wonach die Währungsunion erst am Ende des Integrationsprozesses stehen sollte und eine einheitliche Geldpolitik nicht zu schwach integrierten Volkswirtschaften passt und das Gebilde krisenanfällig macht. Die Eurokrise habe gezeigt, meint der aktuelle Bundesbank-Chef Jens Weidmann, „dass diese Befürchtung nicht ganz unrealistisch war“.

Welche Theorie sich am Ende als die richtige herausstellt, ist noch nicht ausgemacht. Die EU durchläuft derzeit in gewisser Weise beide vorausgesagten Entwicklungen: Die Schuldenkrise machte quasi über Nacht neue zentraleuropäische Notmaßnahmen, die „Eurorettung“, notwendig. Über den Krisenfonds ESM und die Staatsanleihen der Europäischen Zentralbank kam es zu einem nie gekannten Maß an finanzieller Solidarität, aber auch an politischer Einmischung der Gemeinschaft in „Programmländern“ wie Griechenland. Der Glauben an Europas Wohlstandsversprechen ist dadurch vielerorts beschädigt – was Anti-EU-Populisten ausnutzen.

Ein Scheitern der EU ist nicht ausgeschlossen

Ihre Erfolge lassen ein Scheitern der EU erstmals als möglich erscheinen. Der Krönungstheorie zufolge wäre dies das Ergebnis einer von Kohl zu früh unterstützten Währungsunion. Genauso gut lässt sich jedoch im Sinne der Lokomotivtheorie argumentieren, dass die Geburtsfehler des Euro genau jenen Einigungsdruck erzeugt haben, den Kohl prophezeite. Dass Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gerade eine große EU-Reform vorbereiten, spricht für diese Lesart.

Helmut Kohl ist ein großer Europäer gewesen, weil er diesen Prozess maßgeblich ausgelöst hat. Aber erst wenn feststeht, wie er ausgeht, wird das europapolitische Vermächtnis des Pfälzers wirklich unumstritten sein – nicht nur in Straßburg und Kehl.

Die Stuttgarter Zeitung wird von 9 Uhr an in einem News-Blog live berichten: http://stzlinx.de/kohltrauer