7:1 gegen den fünfmaligen Weltmeister Brasilien – ein Fußballspiel wie dieses hat es noch nie gegeben. Die deutsche Mannschaft zieht mit einem sensationellen Sieg ins WM-Finale ein. Der gedemütigte Gastgeber zeigt sich fassungslos.

Belo Horizonte - An der Lagune von Belo Horizonte, über der erhaben das Estádio Governador Magalhães Pinto thront, geht das Drama in die Verlängerung. Am Ufer sitzen sie, die verzweifelten Menschen in den gelben Trikots, und starren ins Leere. Die brasilianischen Landesfarben in ihren Gesichtern sind verschmiert von den Tränen, die auch jetzt noch aus ihren Augen rollen. Zerstört sind alle Hoffnungen, zertrümmert von der deutschen Nationalmannschaft. Wie ein Orkan ist sie über den großen Stolz Brasiliens hinweggefegt, hat ein einziges Trümmerfeld hinterlassen und sitzt jetzt schon wieder im Flieger zurück nach Santo André.

 

1:7. Beziehungsweise aus deutscher Sicht: 7:1. In Worten: sieben zu eins. Im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft. Gegen Brasilien, den Gastgeber. Gegen den fünfmaligen Champion. Gegen 60 000 fanatische Zuschauer in den Rängen, die vor dem Anpfiff so laut die brasilianische Nationalhymne brüllten, dass man fürchtete, gleich müsse das Stadiondach einstürzen. Dieser Sieg ist keine Sensation, er ist ein Wunder. Ein Fußballspiel wie dieses hat es noch nie gegeben.

Wo soll man nur beginnen? Welche Geschichte soll man zuerst erzählen von diesen sagenhaften Stunden des 8. Juli 2014, die keiner, der dabei war, je vergessen wird? Vielleicht fängt man am besten mit dem Dienstältesten an, mit Hartmut Scherzer, der in Block 308, Reihe I, Platz 16 sitzt.

Sportjournalist Scherzer hat seit 1958 keine WM verpasst

Scherzer ist einer der bekanntesten deutschen Sportjournalisten. Er ist 76 Jahre alt und saß einst in Kinshasa bei Muhammad Ali in der Umkleidekabine. Seit 1958 hat der Hesse keine Fußball-Weltmeisterschaft verpasst. Scherzer hat den jungen Pelé spielen sehen, Beckenbauer und Maradona. Er war im 66er-Finale von Wembley dabei, vier Jahre später im Halbfinale von Mexiko-City gegen Italien und glaubt, alles gesehen zu haben, was der Sport zu bieten hat. Ein Irrtum.

In Belo Horizonte hört Hartmut Scherzer nach ungefähr einer halben Stunde Spielzeit auf, weitere Wörter in seinen Computer zu tippen. Die Augen hinter seiner Lesebrille sind feucht geworden. Er holt ein Taschentuch aus seinem Rucksack, beugt sich nach vorne und genießt. Den deutschen Angriffswirbel, die Atmosphäre, den Moment, den er gerne festhalten möchte. „So etwas“, sagt Scherzer leise, „habe ich noch nie erlebt“.

Miroslav Klose, das ist die nächste Geschichte für die Ewigkeit. Das 2:0 schießt der 36 Jahre alte Nationalstürmer. Es ist kein Kunststück, den Ball über die Linie zu drücken, Klose benötigt dafür sogar zwei Versuche. Doch ist es ein Tor, das ihn unsterblich macht. 16 Weltmeisterschaftstreffer stehen jetzt auf seinem Konto. Kein Stürmer der Welt hat bisher öfter getroffen als der stille Pfälzer.

Ronaldo ist als Rekordhalter abgelöst worden

Oben auf der Tribüne sitzt Ronaldo, der bis zu dieser WM Rekordhalter war und nach 23 Minuten vom Thron gestürzt wird. Die Kamera fängt den brasilianischen Volkshelden kurz nach Kloses Tor ein. Sein Gesicht zeigt eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Ehrfurcht.

Unten in den Katakomben des Stadions strecken die Reporter der Weltpresse Miroslav Klose ihre Eintrittskarten und Kugelschreiber entgegen. Seine Unterschrift macht die Tickets vollends zu wertvollen Dokumenten der Zeitgeschichte. Es sei „natürlich ein tolles Gefühl, da oben jetzt alleine zu stehen“, sagt Klose, „aber was zählt, ist nur die Mannschaft“.

Mertesacker hilft an der Seitenlinie nach Kräften mit

Der vielleicht größte Mannschaftsspieler von allen ist Per Mertesacker, ein weiterer Held von Belo Horizonte. Mehr als 100 Länderspiele hat der fast zwei Meter große Verteidiger bestritten, in den ersten vier WM-Spielen stand er in der Startelf. Im Viertelfinale gegen Frankreich war er plötzlich draußen und sitzt auch gegen Brasilien zunächst nur auf der Ersatzbank. Mertesacker beschwert sich nicht – er hilft an der Seitenlinie nach Kräften mit und rennt bei den Toren jubelnd aufs Spielfeld.

Nach der Pause darf er aufs Feld, weil Mats Hummels leicht angeschlagen ist. Er kann nicht mehr viel falsch machen, es steht schon 5:0. Im großen Finale am Sonntag in Rio wird Mertesacker wohl wieder auf der Bank Platz nehmen müssen – und auch dann nicht auf die Idee kommen, deswegen traurig zu sein. „Ich komme damit unheimlich gut zurecht. Ich bin Teil des Teams, mit Leib und Seele. Ich finde hier meine Rolle, da muss sich keiner Sorgen machen“, sagt er. Und er weiß: Niemand wird ihm mehr nehmen können, bei dieser historischen Sternstunde gegen Brasilien dabei gewesen zu sein.

„Sami, Sami, Sami“, rufen die Reporter in der Interviewzone des Stadions, doch Sami Khedira bleibt nicht stehen. Unaufhaltsam läuft er durch das Gedränge in den verwinkelten Gängen und nimmt lange vor der Abfahrt im deutschen Mannschaftsbus Platz. Er will jetzt nicht reden. Er will allein sein mit sich und seinen Emotionen. Zu viel ist passiert in den vergangenen Monaten.

Khedira zeigt sich als eine große Persönlichkeit

Im November riss sich Khedira das Kreuzband. Dass er es trotzdem zur WM schaffen würde, daran glaubte fast keiner. Er selbst schon. Monatelang quälte er sich in der bayerischen Provinz – und reiste schließlich als frisch gekürter Champions-League-Sieger mit Real Madrid nach Brasilien. Einem starkem Auftritt zu Beginn folgte ein ganz schwacher im zweiten Spiel. Kein Wunder, hieß es, er sei nicht fit.

Solche Bedenken gibt es jetzt nicht mehr. Sami Khedira hat gegen Brasilien gezeigt, dass er nicht nur ein herausragender Fußballspieler ist, sondern auch eine große Persönlichkeit. Das nervende Gebrüll der Zuschauer in der Anfangsphase, die wütenden Attacken der Gegenspieler, die ganze Wucht des Moments, durch all das ließ er sich nicht davon abbringen, vom ersten Moment an eine fantastische Leistung zu zeigen. Wenn überhaupt einer noch besser spielte, dann war es Toni Kroos, von dem die letzte Geschichte dieses magischen Fußballspiels handelt.

Er sei ein toller Spieler, aber keiner für die entscheidenden Momente, das hat der Hochbegabte in den vergangenen Jahren sehr oft über sich hören müssen. Sollte es noch immer Zweifler gegeben haben – spätestens nach diesem Spiel gegen Brasilien müssen sie sich vor Kroos in den Staub werfen. So grandios, elegant und effektiv zugleich sind in einem WM-Halbfinale noch nicht viele Mittelfeldspieler aufgetreten.

Die WM-Gastgeber verschanzen sich in der Kabine

Toni Kroos hüpft hinterher nicht feixend auf dem Platz umher – sein erster Gang führt ihn zu Dante, dem Mannschaftskollegen vom FC Bayern mit den lustigen Locken und dem sonst immer so fröhlichen Lachen. Jetzt ist der brasilianische Abwehrspieler am Boden zerstört. Er hat das erste Mal bei dieser WM spielen dürfen und den schlimmsten Moment seiner Karriere erlebt. „Das Leben geht weiter, behalte den Kopf oben“, das habe Kroos zu ihm gesagt.

Die gedemütigten WM-Gastgeber haben sich noch immer in der Kabine verschanzt, als sich draußen vor dem Stadion längst der gelb-grüne Trauermarsch in Bewegung gesetzt hat und Philipp Lahm keine Miene verzieht. „Mitleid gibt es im Fußball nicht“, sagt der DFB-Kapitän, höchstens Mitgefühl. Er selbst hat erlebt, wie es sich anfühlt, ein WM-Halbfinale im eigenen Land zu verlieren, 2006 in Dortmund gegen Italien. Damals waren es die deutschen Spieler, die hinterher weinend auf dem Rasen lagen. Auch Miroslav Klose und Per Mertesacker waren dabei, und natürlich saß auch Hartmut Scherzer auf der Tribüne im Stadion.

Ein paar Tage später gewannen die Italiener den Titel. Wer könnte nach dem Wunder von Belo Horizonte daran zweifeln, dass es diesmal die Deutschen sind, die am Ende den Weltmeisterpokal in den Händen halten werden?