Jahrhundertealte Trockenmauern prägen den Terrassenweinbau in Württemberg. Sie in Zeiten intensivierter Produktion zu erhalten ist mühsam. In Esslingen kämpft der Staffelsteiger-Verein um den Erhalt dieser Kulturlandschaft.

Esslingen - Was passiert jetzt mit dem Berg?“ So einfach können Fragen sein, die etwas in Bewegung bringen. Otto Rapp hat sie sich gestellt, als 2013 nach schweren Regenfällen einige Trockenmauern an den Steillagen der Esslinger Neckarhalde „reigfalla wared“, wie er sagt.

 

Was sich im Wengerter-Schwäbisch des Ortsansässigen noch einigermaßen harmlos anhört, sieht in der Wirklichkeit dramatisch aus: Wenn eine Trockenmauer zusammenbricht, und das geschieht, auch wenn sie gut gebaut ist, nach 30 bis 50 Jahren, liegen große Steinquader durcheinandergewürfelt am Boden, manche hageln den Buckel hinunter, von hinten drängen Erdmassen nach vorne, der Hang kann abrutschen. Statt geometrischer Harmonie dominiert plötzlich das schiere Chaos in der Vertikalen. Schön ist das nicht, unter Umständen ist es sogar gefährlich.

Früher gehörte es im Winter, wenn es sonst wenig zu schaffen gab, zu den Tätigkeiten der Weinbauern und ihrer männlichen Nachkommen, in mühevoller Kleinarbeit beschädigte oder eingefallene Trockenmauern wieder aufzubauen, Schicht für Schicht, aus behauenen Natursteinen, ohne Mörtelverfugung. „Das war einfach so“, sagt Rapp, der diese Kulturtechnik von klein auf durch seinen Vater gelernt hat, ebenso wie Claus Hägele. Und die beiden sehr aktiven Ruheständler haben sie längst auch an die eigenen Söhne weitergegeben.

Viele Wengerter finden keine Nachfolger mehr

Jahrhundertelang ging das so in der Lage Schenkenberg hoch über dem Tal, wo die Bahnlinie verläuft und einst die Firma Hengstenberg ihren Stammsitz hatte. Aber jetzt geht es eben nicht mehr: Die Intensivierung des Anbaus, die Flut der billigeren, weil auf Riesenflächen industriell erzeugten „Weltweine“ aus Merlot- oder Cabernet-Sauvignon-Trauben auf dem Markt setzen dem Geschäft mit dem hier wachsenden Trollinger seit Langem zu. Viele Wengerter in steilen Lagen finden längst keine Nachfolger mehr. Aufwand und Ertrag stünden in keinem vertretbaren Verhältnis zueinander, sagt Rapp, „man braucht in den steilen Lagen das Dreifache an Arbeitszeit wie in der Fläche“. Durch den Klimawandel muss man zusätzlich auch noch immer stärker bewässern.

Nur wenige der verbliebenen Weinbauern in Esslingen – im benachbarten Stuttgart ist es nicht viel anders – haben deshalb inzwischen noch Zeit und Kraft übrig für die Instandhaltung der seit der Stauferzeit vor mehr als 800 Jahren über viele Kilometer hinweg angelegten „Monumente bäuerlichen Schaffens“, wie Hägele die Trockenmauern liebevoll charakterisiert, die ja ganz ohne die Hilfe von Architekten oder Baumeistern entstanden sind. Als Antwort auf die Frage „Was passiert mit dem Berg?“ gründeten die beiden Vollblut-Esslinger deshalb vor drei Jahren gemeinsam mit ein paar Mitstreitern den Staffelsteiger-Verein. Dessen Ziel ist es, die faszinierende und einmalige Kulturlandschaft, die seit dreißig Jahren unter Denkmalschutz steht, zu erhalten und der Öffentlichkeit deutlich zu machen, warum Flaschen aus dieser handwerklichen Produktion teurer sind, und ihr die Bedeutung der Terrassenweinberge nahezubringen.

Wer mit Rapp und Hägele die steilen Treppen am Schenkenberg hinaufsteigt, die auch „Wasserfälle“ genannt werden, weil dort bei Niederschlägen so einige Liter hinunterrauschen, dem vermittelt sich das Anliegen recht schnell. Man schaut aus der Höhe auf das durch die zahlreichen Industrie- und Gewerbeansiedlungen zwar ziemlich ramponierte Neckartal, aber auch auf die dort noch immer vorhandenen Obst- und Gemüsegärten. Im Rücken geben die aus dem örtlichen Stubensandstein – er heißt so, weil man ihn in alten Zeiten gemahlen zum Scheuern im Haus benutzte – kunstvoll aufgebauten Stützwände wunderbare Wärme ab, bis zu zehn Grad mehr als im Tal misst man an den Hängen.

Hilfe zur Selbsthilfe

Das kommt der Pflanzenwelt zugute. Auf den bewachsenen Flächen unter den teilweise über fünfzig Jahre alten Rebstöcken stehen tiefblaue Weinberghyazinthen, die der Volksmund Bauernbüble nennt. An den Mauerrändern gedeiht Lavendel wie in der Provence und dickblättriger Mauerpfeffer, umsummt von Wildbienen. Auch Eidechsen und Schlingnattern schätzen die wohltemperierten Verstecke in den Mauerritzen. „Früher“, sagt Otto Rapp, hätte man zu einem, dessen Land so ausgesehen habe, gesagt, „ha’ so a Schlamper“, in unseren ökologisch bewussteren Zeiten wird die Ansiedlung von Flora und Fauna aber als nachhaltig empfunden.

Früher, das heißt vor allem in den sechziger, siebziger Jahren, wurde ja auch alles flurbereinigt und rationalisiert, was nicht auf den ersten Blick ökonomisch erschien. Die Folgeschäden haben die Verantwortlichen dabei nicht bedacht, einige Trockenmauerflächen fielen diesem unseligen Zeitgeist zum Opfer. Inzwischen, berichtet Otto Rapp, sei das glücklicherweise anders. Die Stadt Esslingen und ihr Oberbürgermeister Jürgen Zieger hätten erkannt, wie charakteristisch die Steillagen und ihre treppenartige Bewirtschaftung für das Stadtbild seien, auch die untere Naturschutzbehörde, vertreten durch Roland Bauer, sei überzeugt von deren Nutzen für das ökologische und ästhetische Gleichgewicht der Region.

Und so fördern beide Behörden den Wiederaufbau eingestürzter Trockenmauern im Landkreis Esslingen inzwischen mit – je nach Schwierigkeitsgrad – 250 bis 450 Euro pro Quadratmeter. Der Staffelsteiger-Verein gibt dann noch fünfzig Euro drauf – bei allen vorausgesetzt, dass nach der althergebrachten Technik ohne Beton gearbeitet wird. Wenn das Grün aus den Fugen herauswächst, flachst Otto Rapp, sei das ein Zeichen, „dass mer ned bschissa hat“. Dafür sammelt man Geld und hat schon einige private Sponsoren gefunden.

Da diese Gelder als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht sind, wie die beiden Vereinsvorsitzenden erläutern, geht für Antragsteller, die einen positiven Bescheid bekommen, das schwere Geschäft erst richtig los. Stolz zeigen Rapp und Hägele eine fast drei Meter hohe Trockenmauer, die im vergangenen Jahr unter ihrer Regie in wochenlanger Arbeit von drei Helfern aufgebaut wurde. Ein kleines Kunstwerk, bei dem jeder der ganz unterschiedlichen Steine an seinem vorgesehenen Platz zu sein scheint.

Einfach ist es nicht, diese ganz besondere Ordnung herzustellen, denn man arbeitet ja nicht mit neuem, maßgefertigtem Material, sondern mit Einzelteilen, die vor Jahrhunderten behauen wurden und immer und immer wieder genutzt werden. Wenn Steine und Boden einer eingestürzten Mauer durcheinanderliegen, heißt es deshalb erst mal „a bissle sortiera“. Man muss dabei ein gutes Auge beweisen, damit die Steine von der Höhe und Tiefe dann auch zusammenpassen, „satt auf der jeweils unteren Schicht liegen und ein sauberes Gesicht haben, damit es auch etwas gleichsieht“. Schließlich muss ein Meter Erde freigeräumt werden, und es wird ein nach hinten geneigtes, massives Fundament gelegt, oder, falls es noch stabil ist, das alte weitergebaut.

Die Kulturlandschaft wird durch das Ehrenamt gerettet

Gemauert wird mithilfe von Spezialwerkzeugen wie Zweispitz, Bossierhammer und einer gespannten Schnur, außerdem mit Bedacht und so sauber, dass immer alles auf einer Linie bleibt, nicht senkrecht, sondern leicht nach hinten strebend. Und, ganz wichtig, erklärt Otto Rapp: Wenn eine Linie gesetzt ist, muss Richtung Berg jeweils breites Hintergemäuer aus verkeilten Steinen eingefügt werden, das den Druck vom Berg auffängt, „der ist ja kriminell bei dieser Neigung“.

Wie lange sich dieses alte Handwerkswissen unter Normalbürgern noch wird halten können, mögen Hägele und Rapp nicht prognostizieren. „Im Weinbaublättle werden immer wieder Maurerkurse ausgeschrieben, aber wer geht da noch hin?“, fragen sie. Landschaftsgärtner lernten das Trockenmauern manchmal noch in der Ausbildung, „aber bei so einem Unternehmen schlagen die vollen Betriebskosten zu Buche, das ist unbezahlbar“.

Bleibt also auch hier, wie inzwischen bei so viel anderen gesellschaftlich wichtigen Anliegen, das ehrenamtliche Engagement, die Leidenschaft Einzelner, die auch „a bissle sportlichen Ehrgeiz“ für das große Ganze aufbringen. Bis Ende dieses Jahres sollen auf diese Weise an den Esslinger Steilhängen rund 550 bis 600 Quadratmeter Trockenmauern wieder aufgebaut worden sein, außerdem wird vom Herbst an ein Weinerlebnisweg Spaziergänger und Wanderer über die stadtbildprägende Kulturlandschaft Neckarhalde aufklären. Der Berg – er lebt dort erst mal weiter.