Sie sind meist gut integriert und haben legale Papiere. Während Präsident Donald Trump politisch taktiert, droht 800 000 jungen Migranten in den USA die Ausweisung. Doch nun regt sich starker Widerstand.

Washington - Den Tag über hat sie sich in ihrer Wohnung verkrochen. Abends rief ihr Vater an. „Mach Dir keine Sorgen. Wir werden das Problem schon lösen“, sagte er. Da dachte Ambar Pinto: Er hat noch gar nicht kapiert, was gerade passiert. „Okay“, antwortete die 23-Jährige. Mehr ging nicht an jenem Dienstag der vergangenen Woche.

 

Der 5. September markiert eine Zäsur in Ambar Pintos Leben. Seit diesem Tag kämpft die eigentlich lebenslustige junge Frau mit den langen schwarzen Haaren gegen die Angst. Als Zwölfjährige war sie mit ihren Eltern ohne Papiere in die USA gekommen. Die Familie war zunächst vor der Armut aus Bolivien und später vor der Gewalt aus Mexiko geflohen. In Virginia gründete der Vater als Stuckateur eine neue Existenz. Ambar ging zur Schule, dann zur Universität. Als Ex-Präsident Barack Obama 2012 ein Schutzprogramm für Migranten-Kinder auflegte, konnte sie endlich dem Schattenreich der Illegalität entkommen: Sie war in der Lage, den Führerschein zu machen und Zukunftspläne zu schmieden – bis zu jenem Dienstag. Da hat die Trump-Regierung das Programm mit einer halbjährigen Galgenfrist beendet. Danach droht 800.000 Einwanderern, die als Minderjährige in die USA kamen, die Ausweisung. „Dreamer“ hat man sie wegen ihrer Träume von einem besseren Leben bisher genannt. Nun leiden sie unter einem kollektiven Alptraum.

„Tickende Zeitbombe“

Ambars Aufenthaltsgenehmigung endet im Mai 2019. „Es ist, als säße ich auf einer tickenden Zeitbombe“, sagt die diplomierte Betriebswirtin in akzentfreiem Englisch. Aus ihrer beruflichen Tätigkeit weiß sie genau, was dann droht: Bei der Migranten-Organisation „United We Dream“ managt Ambar die Hotline für Einwanderer, bei denen die Ausländerpolizei vor der Tür steht. Sie organisiert sofortigen Rechtsbeistand und eine möglichst breite Öffentlichkeit. 30 bis 60 Anrufe musste sie bis zum Regierungswechsel im Weißen Haus pro Monat bearbeiten. Inzwischen sind es 200.

Doch die eigene Ausweisung ist nicht einmal ihre größte Sorge: Um den Abschiebeschutz zu erlangen, musste sie ihre Geburtsurkunde, Schulzeugnisse und alle bisherigen Adressen offenlegen. Niemand werde diese Daten nutzen, hieß es damals. Nach dem Ende des „Dreamer“-Programms sind nun ausgerechnet jene Einwanderer, die sich ehrlich gemacht haben, in Gefahr – und ihre Angehörigen. Unfreiwillig hat Ambar ihre gesamte Familie auf den Radar der Ausländerbehörden gebracht: Ihre mexikanische Mutter und ihr bolivianischer Vater leben illegal in Virginia, ihr 16-jähriger Bruder hat den Aufenthaltsstatus gerade erst beantragt. Nur ihr zehnjähriger Bruder, der in den USA geboren wurde, hat ein sicheres Bleiberecht.

Mit ihren lateinamerikanischen „Dreamer“-Freunden scheut sich Ambar in diesen Tagen zu reden. „Ich muss ein Fels sein für sie“, glaubt sie. Die quirlige kleine Frau ist eine Kämpferin. Bloß fühlt sie sich gerade dafür nicht stark genug. „Ich bin echt neben der Spur“, gesteht sie. „Es hat mich stärker getroffen, als ich erwartet habe. Ich fürchte, ich müsste weinen.“

Trumps Versprechen

„Es gibt keine Sicherheit mehr“, bestätigt Tom Jawetz. Der Fachmann für Einwanderungspolitik bei der linksliberalen Denkfabrik „Center for American Progress“ hat das Gespräch um vier Uhr nachmittags kurzfristig von seinem Büro im Zentrum Washingtons in einen Coffeeshop auf der anderen Straßenseite verlegt. Dort greift er eilig nach einem Rindfleisch-Wrap: „Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.“ Seit die Regierung das „Dreamer“-Programm aufgekündigt hat, steht der Top-Experte unter Strom. Gerade kommt er von einem Treffen mit Kongressabgeordneten.

Jawetz redet schnell, aber pointiert und klar strukturiert. „Ich weiß es auch nicht“, antwortet der Jurist auf die Frage, was der Präsident eigentlich wolle. Im Wahlkampf hatte Donald Trump versprochen, das Abschiebeschutz-Programm zu beenden und hart gegen illegale Einwanderer vorzugehen. Nach der Wahl beteuerte er, er habe ein Herz für die „Dreamer“. Dann ließ er das Programm durch seinen Justizminister Jeff Sessions beenden, nur um anschließend den Kongress aufzufordern, innerhalb von sechs Monaten eine neue gesetzliche Regelung zu finden. Nun verhandelt Trump mit den Demokraten. „Die Regierung hat behauptet, die Dreamer würden Amerikanern die Jobs wegnehmen und die öffentliche Sicherheit gefährden“, sagt Jawetz: „Beides lässt sich mit Zahlen widerlegen.“ Trotzdem fragt er sich, wie der seit Jahren in der Einwanderungspolitik zerstrittene Kongress angesichts solcher Vorgaben eine mehrheitsfähige Lösung finden soll.

Wenn nichts passiert, soviel ist klar, dann laufen am 5. März 2018 die ersten, grundsätzlich auf zwei Jahre befristeten Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen aus. „Ab dann verliert die amerikanische Wirtschaft an jedem Wochentag 1400 Arbeitskräfte“, rechnet Jawetz vor. Die Aussicht darauf schreckt auch viele Unternehmen, die zunehmend lautstark protestieren. Nicht nur die üblichen Verdächtigen aus der Hightech-Welt von Apple bis Microsoft wollen ihre Mitarbeiter notfalls vor Gericht verteidigen. Selbst die erzkonservativen Koch-Brüder, die das zweitgrößte private Firmenkonglomerat in den USA besitzen, fordern, den Abschiebeschutz für junge Migranten beizubehalten.

Mobilisierung des Widerstands

Den Widerstand der Wirtschaft, glaubt Jawetz, habe Trump eindeutig unterschätzt: „Plötzlich spürt er Gegenwind von Leuten, mit denen er sonst auf Vorstandsetagen oder Golfplätzen zusammentrifft. Das ist wichtig.“ Doch die Manager alleine werden nicht verhindern, dass 800 000 Menschen die Papiere entzogen werden. Entscheidend ist die öffentliche Stimmung. Schon wenige Stunden nach der Sessions-Erklärung gingen überall in den USA Menschen auf die Straße. „Das ganze Land kämpft für uns“, registriert Ambar Pinto erfreut. Auch unter ihren amerikanischen Freunden in Washington und ihrem Wohnort Alexandria auf der anderen Seite des Potomac bemerkt sie eine wachsende Sensibilität: „Sie sagen jetzt nicht mehr: Ich versuche, zur Demo zu kommen. Sondern: Ich komme und bringe ein paar Freunde mit.“

Bei der Mobilisierung des Widerstands spielen Graswurzel-Bewegungen wie „Indivisible“ (Unteilbar) eine zentrale Rolle. Vor nicht einmal einem Jahr von zwei ehemaligen Kongressmitarbeitern als Internet-Plattform gegen die Trump-Politik gegründet, verfügt die Organisation inzwischen über 6000 lokale Untergruppen im ganzen Land. „Wir organisieren den Widerstand gegen die Trump-Politik in allen Bereichen“, erläutert Chefstratege Gonzalo Martinez de Vedia: „Vor zwei Monaten stand die Gesundheitsreform im Fokus. Inzwischen ist der Schutz für die Dreamer unser wichtigstes Anliegen.“ Auf ihrer Homepage www.indivisibleguide.com haben die Aktivisten eine interaktive USA-Karte eingerichtet. Mit einem Klick kann man sofort sehen, wie viele Dreamer in welchem Bundesstaat leben. Ein weiterer Klick verbindet mit dem Büro des zuständigen Kongressabgeordneten. „Wir organisieren pausenlos Telefonanrufe“, sagt Martinez de Vedia. Doch nicht nur das: Regelmäßig protestieren die Graswurzel-Widerständler vor den Büros von Abgeordneten und Senatoren. Es vergeht kaum eine Bürgerstunde in den Wahlkreisen, bei denen die Leute von Indivisible die Politiker nicht mit kritischen Fragen traktieren.

Wie sieht ihr Plan B für die Zukunft aus?

Die jüngste Annäherung zwischen Trump und den Demokraten beobachtet man an der Basis skeptisch. „Jede Kooperation droht eine Regierung zu legitimieren, die Rassisten unterstützt“, argumentiert Martinez de Vedia. Vor allem fürchtet er, dass der Präsident mit seinen politischen Taktierereien auf Zeit spielt. Doch die ist knapp. „Wir brauchen eine Verpflichtung und eine Abstimmung im Kongress noch in diesem Monat“, mahnt der Stratege: „Je länger es dauert, desto schwieriger wird es.“ Das sieht der Wissenschaftler Jawetz genauso: „Im Moment steht fast das ganze Land hinter den Dreamern. Das Momentum muss genutzt werden. Die Kongressabgeordneten müssen spüren, dass sie dieser Thematik nicht entkommen können.“

Tatsächlich behauptet Trump inzwischen öffentlich, er wolle die „Dreamer“ gar nicht abschieben. Doch die Unsicherheit für die Betroffenen ist dadurch nicht kleiner geworden. „Diese Regierung hat so viele Versprechungen gemacht. Ich traue ihr nicht“, sagt Ambar Pinto. Sie sorgt sich um ihren 16-jährigen Bruder, dessen vor dem Stichtag beantragte Aufenthaltsgenehmigung noch nicht bewilligt wurde: „Ich rufe täglich bei meinen Eltern an und frage: Ist ein Brief gekommen?“ Bislang war die Hoffnung vergeblich.

Hat sie einen Plan B für ihre eigene Zukunft? „Ich werde nicht nach Bolivien gehen“, antwortet Ambar entschlossen. Fast die Hälfte ihres Lebens hat sie in den USA zugebracht. Hier ist ihre Arbeit, hier sind ihre Freunde. „Meine Heimat ist Virginia. Ich werde mit jeder Faser dafür kämpfen, hier zu bleiben.“ So denken die meisten Dreamer, die im Zweifelsfall untertauchen und illegal in den USA bleiben wollen. An der von den Trump-Unterstützern beklagten Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft würde sich also kaum etwas ändern. Nur würden unzählige größtenteils gut integrierte und aufstiegsorientierte Menschen ihrer bürgerlichen Existenz beraubt.

„Wir müssen auch wieder lachen.“

Doch einstweilen will Ambar die Zukunft nicht zu viel Macht über die Gegenwart gewinnen lassen. „Unser Leben muss weitergehen“, sagt die 23-Jährige. „Wir müssen verdrängen und auch wieder lachen.“ Genau das, ist sie inzwischen überzeugt, wollte ihr auch ihr Vater mit seinem scheinbar naiven Anruf signalisieren. Trotzig hält sie die Tränen zurück: „Ich habe in drei Ländern gelebt, eine komplett neue Sprache gelernt und mir eine berufliche Existenz aufgebaut. Offenbar habe ich also eine gewisse Widerstandskraft.“