Die Tuareg in Mali haben nicht nur ein Image-Problem. Nach der Revolte der Befreiungsbewegung gelten die Angehörigen des Berbervolkes als Terroristen. Aus dem öffentlichen Leben sind sie nahezu verschwunden.

Bamako - Sein Grinsen, mit der Zigarette zwischen den Zähnen, seine lässigen Gesten, sein Fläzen – der ganze Kerl erinnert irgendwie an Jean-Paul Belmondo. Mohamed Ag Ossade, 56 Jahre, Leiter des Tuareg-Kulturzentrums Tumast in Bamako, kultiviert eine gewisse Selbstironie: „Ich bin jetzt der Tuareg-Experte. Fragen Sie!“

 

Da klingelt wieder sein Handy. Ein französisches Magazin braucht dringend noch ein Foto von ihm, mit Turban. „In einer Stunde? Kein Problem.“ Ossade sitzt seit Wochen auf der Steinterrasse vor dem Kulturzentrum und hält Hof, redet sich in Rage und raucht Kette. Er hat eh nichts Besseres vor. Der Ansturm auf den Tuaregschmuck, den er in seinem Zentrum verkauft, hält sich derzeit in Grenzen. Veranstaltungen sind rar geworden. Vor einem Jahr gab es noch Tausende von Tuareg in Malis Hauptstadt. Die meisten sind verschwunden. „Und die noch da sind, haben Angst.“

Und er? „Ich nicht“, sagt er bestimmt. Hin und wieder gelingt es Ossade, Vertreter anderer Volksgruppen in seinen mit schönen Stoffen geschmückten Versammlungssaal zu locken. „Mali ist seit 53 Jahren unabhängig. Wir müssen zusammen reden, essen, singen, lachen. Wir sind alle Malier, Bewohner eines armen Landes. Wir müssen einander besser kennenlernen. Das Einzige, was wir gerade haben, ist unsere Kultur.“ Es klingt, als wolle er sich selbst Hoffnung machen. Auch dieser feurige Botschafter der Tuaregkultur, das wird in dem langen Gespräch deutlich, gerät gelegentlich aufs abschüssige Terrain der Resignation.

Das Problem ist so komplex, dass selbst Experten zuweilen den Faden verlieren. Seine Wurzeln reichen Jahrhunderte zurück. Betroffen sind neben Mali auch Niger, Algerien, Libyen und Burkina Faso. Die ökologischen Veränderungen der Sahara und der Hunger spielen hinein, die Kolonialgeschichte, die hierarchischen Verästelungen der zahllosen Tuareg-Clans, die Ausbreitung des Wahabismus, die Bodenschätze unter der Wüste, der jähe Exitus des Muammar al-Gaddafi und und und . . .

Ein komplexes Problem

Seit Malis Unabhängigkeit anno 1960 gab es in Mali viele Tuareg-Aufstände. Der erste in den sechziger Jahren wurde blutig niedergeschlagen. Erst die zweite Revolte Anfang der Neunziger habe, so Ossade, „wirklich etwas verändert“. Am Ende stand ein „nationaler Pakt“. „Es ging um Integration, nicht um Unabhängigkeit.“ Das Militär lockerte seinen Griff auf den Norden. Im Süden machten Tuareg Karriere als Minister und Direktoren. „Das ist ein demokratisches Land. Wir sind eine Minderheit, selbst im Norden. Wir sind Malier“, sagt Ossade und setzt mit großen Augen nach: „Ich werde als Malier sterben.“

Der Beginn der aktuellen Krise lässt sich genauer datieren. Am 17. Januar 2012 nahm eine neue Tuareg-Rebellenformation namens Mouvement National de Libération de l’Azawad, kurz MNLA, die Militärbasis im Städtchen Ménaka nordöstlich von Bamako unter Feuer. Gefolgt von einem neopatriotischen Begeisterungssturm etlicher Tuareg und ihrer Fans im Netz: „Es lebe Azawad!” „Freiheit!“ „Lang lebe Azawad!“ Es war wie bei Tim & Struppi.

Etliche der MNLA-Rebellen, die Schätzungen liegen zwischen vielen Hundert und einigen Tausend, waren zuvor aus Libyen zurückkehrt, wo sie Gaddafi über Jahre als Söldner gedient hatten. Ihren letzten Sold nahmen sie sich einfach: Dutzende Geländewagen und einen Berg Waffen aus den gewaltigen Arsenalen des gefallenen Revolutionsführers. Kurz vor der bergigen Tuareg-Hochburg Kidal im fernen Nordosten Malis taten sie sich einige Monate vor Kampfbeginn mit alten Recken der Befreiungsmilizen MTNM, MFUA und diversen anderen Grüppchen zusammen. Binnen Wochen stießen schätzungsweise 1500 Tuareg hinzu, die aus der malischen Armee desertierten. Junge Kämpfer wurden angeworben. Der Elan, die Waffen und das Geld der neuen „Befreier“ boten hohen Anreiz.

Die MNLA fühlte sich nun stark genug, den ganzen Norden einzunehmen. In Aguelhok ging der malischen Armee Ende Januar die Munition aus. Die Soldaten wurden überrannt, 82 starben. Sie seien im Kampf gefallen, behauptet die MNLA. Sie wurden kaltblütig massakriert, sagt das Militär. Es ist einer der vielen Fälle, in denen jetzt der Internationale Strafgerichtshof ermittelt.

Es geht um ein Zusammenleben

Ob der Schmach der Armee stürzten malische Soldaten am 21. März die zwar demokratische, aber als zunehmend unfähig und korrupt empfundene Regierung von Präsident Amadou Toumani Touré in Bamako. Die Lage im Norden wurde dadurch nicht stabiler. Eher das Gegenteil war der Fall. Neun Tage später fiel Kidal an die MNLA, tags darauf Gao, tags darauf Timbuktu. Am 5. April rief die MNLA den unabhängigen Staat Azawad aus, ein Gebiet größer als Frankreich, das rund drei Fünftel von Malis Territorium umfasst.

„Aza . . . what?“, fragte sich die Welt. „Azawad? Eine Schnapsidee“, sagt Agory Ag Iknane, Präsident der Association des Ressortissants de Kidal. Noch ein zorniger Tuareg. „Diese Rebellen haben uns nicht gefragt“, sagt der Arzt aus Bamako, „und bringen uns in Teufels Küche. Wir Tuareg werden dafür einen hohen Preis zahlen.“

„Azawad! Für wen?“, fragt auch der Tuareg-Kulturträger Ossade. „Die denken nicht nach. Wovon wollen die das Volk ernähren?“ Die Tuareg im Norden bräuchten Wasser und Freiheit, sagt er. „Aber dafür darf ich nicht jedes Mal einen Krieg anfangen.“ Ossade schultert ein imaginäres Gewehr, lässt dann die Hände fallen und schüttelt das Haupt. „Wir sind eine Minderheit in Mali. In Niger gibt es mehr Tuareg als hier. Aber dort haben sie verstanden, worum es geht: um ein Zusammenleben.“

Die Tuareg machen in Mali etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Es ist ein Vielvölkerstaat. Die größte Gruppe bilden die Bambara, daneben gibt es Malinké, Senufo und viele andere. Die Mehrzahl fühlt sich als Malier, der Faktor Ethnie spielt hier eine geringere Rolle als in anderen afrikanischen Ländern. Wohl hat es immer wieder Übergriffe auf Tuareg in Mali gegeben, doch es dominiert eine Kultur des Dialogs. Es gibt eine Unzahl von Parteien, Vereinigungen und Zeitungen. Man spricht miteinander in Mali, manchmal fast zu viel.

Gereizte Stimmung im Norden

Ein Defilee bunter Gewänder ist im Haus der Presse im Zentrum von Bamako zu bestaunen. COREN hat eingeladen, das Kollektiv der Bewohner des Nordens, ein Sammelbecken vieler Organisationen, dem allerlei Ex-Minister angehören. Auf der Bühne reihen sich, würdevoll, zehn Männer und Frauen. Auch die ersten Sitzreihen sind mit Repräsentanten des Nordens besetzt. Das Ritual des gegenseitigen Händeschüttelns nimmt eine halbe Stunde in Anspruch. 17 Ventilatoren mühen sich, die heiße Luft im Saal in Bewegung zu halten.

Man beginnt mit einer Schweigeminute für die Opfer des Krieges. Es folgen Wortbeiträge mit nationalem Pathos, die Frankreich loben und „Malis Söhne und Töchter“ zur Einheit aufrufen, im „gerechten Kampf gegen die Terroristen und Drogenhändler“. Die Vertreter des Nordens sind in Sorge um den Ruf „unserer kleinen Familie“ und bemüht, sich von Rebellen und Islamisten zu distanzieren. „Das ist nur eine kleine Minderheit“, beteuert ein Redner. „Die große Mehrheit will Frieden und Demokratie.“

Da erhebt sich ein Journalist: „Gestern der Norden, heute der Norden – wer garantiert, dass es morgen nicht wieder der Norden ist?“ Ein Raunen geht durch den Saal. Die Frage spiegelt die gereizte Stimmung im Süden: immer die Tuareg, immer der Norden. Die fernen Landesteile Richtung Sahara gelten vielen als ewiger Störfaktor, als Terrorzentrale. Die Bühne verdoppelt ihre nationale Rhetorik, beschwört über Stunden volle Loyalität zum Staat Mali.

Wird es einen Rachefeldzug geben? Wo man sich auch umschaut in Mali: die Tuareg sind weg wie auch die meisten Araber. Beide Volksgruppen sind an ihrer helleren Haut zu erkennen. Verschwunden sind sie vom Markt in Mopti im Zentrum des Landes, wo Salz aus der Wüste verkauft wird. Auch am Hafen kein Tuareg. Mit einer Piroge kommt man zur Insel gegenüber. Hier haben vor Monaten noch Tuareg gelebt. Wo sind sie? „Vielleicht in Mauretanien“, sagt eine Songhai-Frau, die jetzt im Haus einer Tuareg-Familie lebt. Dort sind riesige Flüchtlingslager.

Selbst in Bamako berichten Tuareg, sie würden sich kaum mehr auf die Straße trauen, würden angestarrt und im Vorbeigehen angezischt: „Rebell!“ Im Zentrum des Landes ist die Lage angespannter. Menschenrechtsorganisationen berichten über tödliche Rachefeldzüge von Zivilisten und Soldaten gegen vermeintliche „Spione“ und „Kollaborateure“. Auch im befreiten Norden wendet sich die Wut über das Leid während der Besatzung nun gegen Tuareg und Araber: In Timbuktu gab es Plünderungen ihrer Geschäfte und Wohnungen.

Kann es Versöhnung geben?

Die Lage, meint Mohamed Ag Ossade, sei gefährlicher denn je. „Die Tuareg haben die Terroristen angeschleppt. Das ist unverzeihlich.“ Schlimmer noch als der alberne Plan von Azawad, wenige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung hatte die MNLA in ihrem neuen Staat nichts mehr zu melden. Die nationalistischen Tuareg wurden ausgebootet – von ihren algerischen Freunden der Al-Kaida im islamischen Magreb, deren Abspaltung MUJAO und von Ansar Dine, den „Verteidigern des Glaubens“. Diese Islamisten verjagten die MNLA-Tuareg mit ein paar Salven und riefen ihren Gottesstaat aus. Was folgte, ist bekannt: Terror einer Religionspolizei, die den Genuss von Musik, Tabak und Alkohol mit Prügeln und Peitschen bestrafte und unverheiratete Pärchen steinigte.

Eigentlich, sagt Ossade, sei das Leben in der Wüste einfach nur hart: „Es ist heiß, kein Regen. Tiere sterben, manchmal auch Menschen.“ Da sei es doch zwecklos, alle zehn Jahre wieder zu den Waffen zu greifen. Kann es Versöhnung geben? „Die ganze Welt guckt auf Mali. Ich glaube schon.“

Der Konsens in Bamako lautet jetzt: Verhandlungen ja – aber nicht mit Terroristen. Die MNLA hat eine Chance, nicht dazugezählt zu werden. Doch schon gibt es Berichte über Kriegsverbrechen ihrer Kämpfer, über Vergewaltigungen und Verschleppungen von Frauen.

Die Tuareg, sagt Ossade, hätten berechtigte Forderungen. Doch müssten sie lernen, diese politisch zu artikulieren. Das sei ihre eigentliche Schwäche. „Wenn ich ein Problem habe, muss ich den Mund aufmachen und verhandeln.“ Er greift nach seinem langen Tuch, beginnt mit schwungvollen Bewegungen, sich einen Turban zu binden. „So ein Turban“, spottet er, „hat seinen Sinn.“ Er wickelt das Tuch um die Ohren: „Nichts hören.“ Dann um den Mund: „Nichts sagen.“ Schließlich zieht er es über die Nase: „Und möglichst wenig sehen.“