Kanzlerin Angela Merkel habe die Regeln der Medienwelt verstanden, verweigere sich ihnen im Wahlkampf jedoch systematisch, sagt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Zugleich kritisiert er den Umgang der Talkshowmacher mit der AfD.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der Wettstreit der Parteien hat zu wenig programmatische Orientierung geboten, sagt der Tübinger Wissenschaftler Bernhard Pörksen. Auch die Medien haben daran ihren Anteil.

 
Herr Pörksen, alles stöhnt über einen langweiligen Wahlkampf – dabei berichten die Medien wohl mehr als je zuvor. Wie passt das zusammen?
Wer den Wahlkampf als langweilig bezeichnet, will Politik als Spektakel, als Krawallveranstaltung. Das kann nicht gemeint sein. Aber diesem Wahlkampf fehlt etwas, was ich programmatische Polarisierung nenne – er ist politisch entleert. Die Parteien der Mitte haben keine Visionen und keine großen Entwürfe präsentiert, sich im Klein-Klein verheddert und gelähmt durch parteiinterne Streitigkeiten sowie interne Machtkonflikte widersprüchliche Botschaften formuliert. Natürlich gibt es Unterschiede in Fragen der Renten- und Sozialpolitik, unterschiedliche Akzente im Umgang mit der Flüchtlingsfrage, aber diese werden nicht wirksam im Sinne der politischen Orientierung. Und es fehlte bei den Parteien der Mitte die Sichtbarkeit der langen Linie und der mutige, zukunftsorientierte Gesellschaftsentwurf.
Was ist die Konsequenz?
Das hat dazu geführt, dass eine ratlose Mitte entstanden ist – Wähler, die nicht wissen, was sie wählen sollen. Es erklärt auch, warum das Wutprogramm der AfD und das Spiel mit Überfremdungsängsten eine solche Aufmerksamkeit bekam. Die populistische Polarisierung der AfD war auch deshalb so erfolgreich, weil die programmatische Polarisierung der etablierten Parteien fehlte. Die weiche, diffuse Konsens der Mitte hat die Ränder gestärkt.
Vielfach wird suggeriert, die Wahl sei entschieden. Ist das nicht demokratiefeindlich?
Natürlich. Das ist eine vom allgemeinen Umfragen-Aberglauben infizierte Demokratieverachtung, die übersieht, wie viele Menschen noch unentschieden sind.
Wie beurteilen Sie den Wahlkampf?
Dies war ein politisch entleerter Wahlkampf, regiert von Streit- und Themenvermeidung, dem Fehlen großer Entscheidungsfragen, die von den Parteien der Mitte hätten formuliert werden müssen. Stattdessen ein Regiment der Stimmungen: zuerst die Angst vor Desinformation und Schmutzkampagnen, dann der Hype um Schulz, schließlich die Fokussierung auf das TV-Duell – und jetzt die Befürchtung bei vielen, dass die Rechtspopulisten ein Wahlergebnis einfahren, das deutlich über den Prognosen liegt.
Wenn die politische Mitte es hat vermissen lassen, unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe deutlich zu machen, wie Sie sagen – haben die Medien die Unterschiede nicht deutlich genug gemacht?
Das Problem ist ein verstörendes Zusammenspiel aus Politik und Medien, das im Ergebnis ein visionsfeindliches Kommunikationsklima erzeugt: Da sind einzelne Medien, die auf den Fehler lauern, auf keinen Fall den nächsten Hype verpassen wollen, manchmal auch einen schlicht dümmlichen Mätzchen-Journalismus praktizieren wie: „Sagen Sie in 30 Sekunden, wie Sie Deutschland nach vorne bringen wollen!“ Und da sind Angstpolitiker der Mitte, die die hektische Sofort-Beurteilung fürchten, wenn sie ohne übertriebene Taktiererei formulieren. Dieses Zusammenspiel droht den mutigen Entwurf von Alternativen zu ersticken; ganz gleich, ob es um eine positive Vision der Integration, eine Vision der offenen Gesellschaft oder der ökologischen Lebensweise, der zukünftigen Mobilität oder der digitalen Mündigkeit geht.
Und doch: Haben sich die Medien zu sehr mit Personen, zu wenig mit Inhalten befasst?
Natürlich. Medien lieben Personen, Gesichter, Geschichten. Aber Personalisierung ist nicht per se schlecht, weil ja die Person das Programm verkörpern kann: Denken Sie nur an die Auseinandersetzungen zwischen Konrad Adenauer und Willy Brandt, zwischen Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß, auch noch zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder. In diesem Wahlkampf gab es eine Personalisierung ohne Programm. Selbstverständlich haben daran die Medien ihren Anteil.