Wissenschaftler vermuten, dass Erdogan den Putschversuch nutzt, um die außenpolitischen Beziehungen der Türkei radikal zu verändern. Die Annäherung an Russland hat bereits begonnen.

Moskau - Das Außenamt in Moskau ist besorgt. Doch zwischen Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan passt derzeit erneut kein Blatt mehr. Russlands Präsident war der erste, der seinem türkischen Amtskollegen in der Nacht zu Samstag Unterstützung zusagte. Russland werde mit der legitimen und demokratisch gewählten Regierung in Ankara „konstruktiv zusammenarbeiten.“ Ein Satz, der vor noch nicht einmal drei Wochen undenkbar war.

 

Rückkehr zur Normalität

Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets über dem türkisch-syrischen Grenzgebiet im November hatte Moskau die diplomatischen Beziehungen abgebrochen und gegen Ankara umfangreiche Wirtschaftssanktionen verhängt. Rückkehr zur Normalität hatte Putin von einer Entschuldigung abhängig gemacht. Zwar war die Formulierung, die Erdogan dafür wählte, linguistisch nicht ganz lupenrein. Dennoch hatten russische Reiseveranstalter schon am darauffolgenden Donnerstag die All-inclusive-Paradiese an der türkischen Riviera wieder im Programm, Airlines schmissen ihre aktuellen Sommerflugpläne für die Charterflüge dorthin. Keine 24 Stunden später hob Moskau auch das Embargo für türkische Lebensmittel auf. Tags darauf lagen die ersten türkischen Tomaten wieder auf russischen Tellern.

Ursprünglich wollten Zar und Sultan die Versöhnung mit einem persönlichen Handschlag beim G-20-Gipfel im September in Peking krönen. Bei ihrem Telefonat am Samstag indes soll von Vorverlegung auf Anfang August die Rede gewesen sein. Der letzte Gipfel fand im Dezember 2014 statt und brachte das South-Stream-Projekt auf den Weg: Eine über den Boden des Schwarzen Meeres verlegte Pipeline, die die Türkei und Südosteuropa unter Umgehung der Ukraine stabil mit russischem Gas versorgen sollte.

Pipeline-Projekt wird wieder belebt

Zum Ärger des Westens, der Moskau wegen der Ukraine-Krise gerade mit umfangreichen Wirtschaftssanktionen bestraft hatte. Gasprom ging umgehend in die Vorleistungen. Der türkische Staatskonzern Botas indes nervte mit immer neuen Forderungen bei den Vertragsverhandlungen. Nach dem Abschuss des Kampfjets legte Moskau sie auf Eis. Jetzt soll das Projekt reanimiert werden. Ankara werde diesmal ein sehr viel pflegeleichterer Partner sein, glauben Leitartikler.

Der Putschversuch habe Erdogan zwar innenpolitisch gestärkt, gleichzeitig aber werde er das Verhältnis der Türkei „zur Außenwelt radikal verändern“. Vor allem zum Westen. Dumaabgeordnete glauben, westliche Geheimdienste, vor allem US-amerikanische, hätten bei dem Umsturzversuch eine wichtige Rolle gespielt. Politikwissenschaftler sehen das ähnlich. Die Putschisten, schreibt Anna Glasowa vom Institut für strategische Studien in einem Namensartikel für die Nesawissimaja Gaseta , gehörten zur US-Lobby in der türkischen Armee, mit der Meuterei hätten sie auch Erdogans Wiederannäherung an Moskau verhindern wollen.

Schulterschluss mit Moskau

Sollte es Erdogan wasserdichte Beweise für die US-Connection seiner Gegner beibringen können, dürften die Spannungen im Verhältnis zur USA und dessen europäischen Verbündeten dramatisch eskalieren. Türkei-Experten in Moskau schließen nicht einmal aus, das Ankara dann die westlich geführte Anti-Terror-Koalition in Syrien verlässt. Allein würde die Türkei allerdings auch ihren traditionellen Einfluss auf die Spaltprodukte des Osmanischen Reiches im Nahen Osten, vor allem in Syrien und im Irak, verlieren. Allein das, so Kenner der Materie, sei für Erdogan ein guter Grund, erneut den Schulterschluss mit Russland zu suchen, das durch seine Erfolge in Syrien langfristig Einflussfaktor in der Region bleiben werde. Und Erdogans außenpolitischer Lieblingsfeind Baschar Assad dadurch an der Macht. Doch dem Türken sei klar, dass nur mit Bodenschlägen syrischer Regierungstruppen der Krieg gegen die Terroristen gewinnbar ist. Unter deren Anschlägen aber leide die Türkei derzeit so massiv wie Russland in der Jelzin-Ära und Putins ersten Jahren. Bei dessen Treffen mit Erdogan werde es daher auch um Öffnung des türkischen Luftraums für Angriffe der russischen Luftwaffe gegen IS und Co in Syrien gehen. Das würde Geld wie Zeit sparen.