Die wachsenden Kontlikte in der Türkei führen auch in der türkischen Community in Stuttgart zu wachsenden Spannungen. Angst und Misstrauen machen sich breit.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Die Orte in der Stuttgarter Innenstadt liegen nicht weit voneinander entfernt, und doch könnten die Positionen unterschiedlicher nicht sein. „Ich finde es gut, was zurzeit in der Türkei passiert“, sagt Erdal Yildis vor einem Imbiss über die Verhaftung von Politikern der prokurdischen Partei HDP. „Es kann ja nicht sein, dass Terroristen ihre Meinung im Parlament vertreten“, erklärt der Vater von drei Kindern. Er könne das sagen, er sei schließlich selbst Kurde, erklärt der Mann, der seit Langem in Deutschland lebt.

 

In einem Café nur zwei Straßen weiter sieht die Welt ganz anders aus. „Der Islamfaschismus nimmt immer mehr zu“, kritisiert Ulas K. die Vorgänge in der Heimat seiner Familie. „Dabei sollten alle Türkischstämmigen in Deutschland gegen das sein, was da passiert“, findet der 29 Jahre alte Unternehmer. „Aber die Einstellungen werden radikaler.“

Ton und Wortwahl werden heftiger

Seit vielen Monaten wühlen immer neue Schreckensnachrichten aus dem Land am Bosporus die Gemüter auch der türkischstämmigen Menschen in Stuttgart auf. „Die heftiger werdenden Spannungen bilden sich hier eins zu eins ab“, sagt Kerim Arpad vom Deutsch-Türkischen Forum. Er registriert eine „Spaltung der Bevölkerungsgruppen, die täglich an Stärke gewinnt“. In den sozialen Medien, aber auch bei persönlichen Begegnungen sei dies festzustellen. Arpad: „Der Ton und die Wortwahl wird heftiger.“ Vor allem für junge Menschen werde es „unter dem täglichen Beschuss der Medien“ schwieriger, eine eigene Position zu finden. Entziehen könne sich dem kaum einer, fast jeder habe Angehörige in der Türkei, sagt Arpad.

Nach den jüngsten Zahlen leben derzeit genau 34 107 Menschen türkischer Herkunft in Stuttgart, 18 513 mit türkischem, 15 594 mit deutschem Pass. Darunter dürften schätzungsweise 8000 Kurden sein.

In der Türkei halten jetzt alle still

Wie sehr die Konflikte in der Türkei den Alltag auch der Menschen hierzulande beeinflussen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Erdal Yildis, der in seiner Haltung klar zwischen Deutschland und der Türkei trennt, sieht hier keine wachsenden Probleme. „Ich lebe mit meiner Familie hier, das ist das Entscheidende.“ Andere sehen dagegen ein wachsendes Misstrauen zwischen den Menschen entstehen.

Das fängt an bei den Kontakten in die alte Heimat. „Wenn wir telefonieren, sprechen wir nicht mehr offen, jeder hat Angst, und ich will die Leute ja nicht in Gefahr bringen“, sagt Turan Tekin, der Sprecher der Kurdischen Gemeinde Baden-Württemberg. Das ist für Tekin, der seit 36 Jahren hier lebt und „deutsch tickt“, wie er sagt, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Auch er sieht eine „Dynamik der aggressiven Stimmung“ innerhalb der türkischen Community. Gäste, die ihn unlängst besucht haben, hätten die Spaltung hier in Deutschland sogar stärker empfunden als in der Türkei selbst. „Das liegt vielleicht daran, dass die Leute hier freier reden können“, vermutet Turan Tekin. „In der Türkei halten jetzt ja alle still.“

Bis jetzt steigt die Zahl der Flüchtlinge nicht

Nicht wenige tun dies inzwischen auch hier. „Seit sechs Monaten kann ich nicht in die Türkei fliegen“, klagt ein 43 Jahre alter Einzelhändler, der einen Laden in der City hat. Nicht weil er Kurde ist, sondern weil in seinem Freundeskreis Gülen-Anhänger sind. Mit denen werde er seit dem Putsch in einen Topf geworfen, sagt der Geschäftsmann und befürchtet, dass sein Name an die türkischen Behörden gemeldet wurde. „Mit demjenigen, von dem ich glaube, dass er meinen Namen weitergegeben hat, trinke ich sogar immer wieder Kaffee“, erzählt der 43-Jährige. Vor dem Hintergrund von Listen mit angeblichen Gülen-Leuten, die von Erdogan-Anhängern in den vergangenen Monaten auch in der Region Stuttgart in Umlauf gebracht wurden, ist die Angst vor Denunzianten ziemlich real. Deshalb will der Händler, der Geschäftsbeziehungen in der Türkei hat, auf keinen Fall riskieren, bei einem Besuch womöglich festgesetzt zu werden.

Ob politisch Verfolgte aus der Türkei bald auch in Stuttgart Zuflucht suchen werden, darüber lässt sich nur spekulieren. Aktuell sind 49 türkische Flüchtlinge registriert. Diese Zahl sei „in den vergangenen Wochen nicht nennenswert gestiegen“, sagt Sozialamtsleiter Stefan Spatz.

Gespräche mit den verschiedenen Gruppen

Für den Bürgermeister für Soziales und Integration, Werner Wölfle (Grüne), ist klar: „Gerade in Stuttgart leben viele Menschen, die direkte Verwandte und Freunde in der Türkei haben, die entweder schon verhaftet oder gefährdet sind. Diesen Menschen sollten wir Schutz bieten.“ Um ein Übergreifen der Eskalation aus der Türkei zu begrenzen, werde man den Dialog mit allen türkischen Gruppen fortsetzen. Einzelne Gespräche führe man bereits.

Polizei hat ein Auge auf die Politik

Die Ereignisse in der Türkei beeinflussen auch die Arbeit der Stuttgarter Polizei. „Wir sind höchst sensibel, was das Thema angeht, und müssen die Entwicklungen in der Türkei auch in unser tägliches Lagebild einfließen lassen“, sagt der Polizeisprecher Stefan Keilbach. Das Verhältnis zwischen türkisch- und kurdischstämmigen Bürgern sei durch die politische Lage auch in Deutschland sehr angespannt. „In Teilen dieser Gruppen sehen wir ein sehr hohes Konfliktpotenzial“, sagt der Polizeisprecher. Schließlich gehe es im Land, aus dem die Familien stammen, „um Leben und Tod“.

„Wir haben sehr großes Verständnis dafür, dass die Leute auf die Straße gehen“, fügt Stefan Keilbach hinzu. Die Rolle der Polizei sei es dabei, die Versammlungsfreiheit für alle zu garantieren. Die Polizei dürfe von den rivalisierenden Gruppen daher nicht als Gegner gesehen werden. In diesem Jahr mussten Polizisten bereits mehrfach kurdisch- und türkischstämmige Gruppen voneinander fernhalten, da es sonst zu gewalttätigen Auseinandersetzungen hätte kommen können.

Große Demonstrationen sind aktuell in Stuttgart nicht geplant – wohl auch, weil für den 12. November bereits eine zentrale Großveranstaltung in Köln angekündigt ist. Kurden wollen jedoch am Stuttgarter Schlossplatz eine dauerhafte Mahnwache einrichten.