Eine lokale Kampagne gegen die Zerstörung eines Parks in Istanbul weitet sich zu einer Revolte gegen die Regierung Erdogan aus. Tausende Menschen gehen auf die Straße – in der Türkei und auch in Deutschland.

Istanbul - Die Luft wird stickiger – je näher das Zentrum rückt. Trotzdem strömen von allen Seiten Zehntausende auf Istanbuls Taksim-Platz, sie singen und klatschen. „Ich habe mehr als 4000 Mundschutzmasken gegen Tränengas verkauft“, sagt ein Apotheker und gibt Tipps, wie man sich bei Angriffen der Polizei verhalten sollte. Die Steuerberaterin Sevinc telefoniert mit ihrem Vater, einem Werftarbeiter. „Was, du willst auch kommen, Papa“, fragt die 28-Jährige ungläubig, „Na gut, wir warten auf dich.“ Menschen jeder Altersklasse haben sich am Samstag auf den Weg gemacht, um gegen die Politik der türkischen Erdogan-Regierung zu protestieren.

 

Dabei fing der Widerstand bescheiden an. Umweltschützer hatten seit Tagen mit einem Protestlager friedlich gegen die Abholzung des beliebten Gezi-Parks demonstriert, eine der letzten Grünflächen im Zentrum von Istanbul. Dort soll eine Militärkaserne aus ottomanischer Zeit rekonstruiert werden, es sollen Bars und ein Einkaufszentrum entstehen. Doch in den frühen Morgenstunden am Freitag wurden die schlafenden Demonstranten von Tränengasangriffen der Polizei überrascht, die mit gepanzerten Fahrzeugen anrollten. „Es gab keine Vorankündigung“, erzählt die Demonstrantin Susi, „wir wollten fliehen, aber aus jeder Richtung kam die Polizei. Ein Entkommen war unmöglich.“ Der Protest zog Kreise, in der Türkei kam es am Wochenende zu 235 Demonstrationen. Auch in mehreren deutschen Städten versammelten sich Tausende zu Solidaritätskundgebungen, etwa in Stuttgart und Hamburg. Dabei ging es längst nicht mehr nur um einige Dutzend Bäume. „Die Regierung soll zurücktreten!“, forderten die Aktivisten.

Die Wut der Bevölkerung entlädt sich im Protest

Der Protest ist ein Ventil für die Wut der Bevölkerung gegen den autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP-Regierung. Die Meinungsfreiheit wurde in den vergangenen Jahren in der Türkei massiv beschnitten. Friedliche Demonstrationen wie etwa am 1. Mai wurden mit Tränengas gestoppt. Zahlreiche Studenten, Menschenrechtler und Journalisten sitzen in Haft. Erst vor ein paar Tagen wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Verkauf von Alkohol stark einschränkt. Der Bauwahn in Istanbul nimmt kein Ende, auf die Umwelt wird wenig Rücksicht genommen. Vergangene Woche wurde der Grundstein für eine dritte Bosporus-Brücke gelegt, riesige Waldgebiete sollen dafür weichen. Erdogan befeuert den Neokapitalismus und predigt konservative Werte – die Bevölkerung wird schon lange nicht mehr nach ihrer Meinung befragt.

Doch seit Kurzem scheinen die Bürger sich ihrer eigenen Stärke bewusst zu werden. Istanbul ist im Ausnahmezustand. In vielen Stadtvierteln zeigen sich die Anwohner am Wochenende solidarisch, sie trommeln auf Töpfe, schwenken Fahnen und fahren bis spät in die Nacht hinein hupend durch die Straßen. Die Fähren vom anderen Bosporusufer sind hoffnungslos überfüllt. „Ich musste einfach ins Zentrum kommen, egal wie lange es dauert“, sagt Ahmet, ein junger Anwalt. „So etwas habe ich in Istanbul noch nie erlebt. Davon werden wir noch unseren Enkeln erzählen.“

Der Gezi-Park gehört wieder den Bürgern

Am Samstagmittag zieht sich die Polizei überraschend aus dem Istanbuler Stadtzentrum zurück, der Gezi-Park gehört wieder den Demonstranten. Die Stimmung ist ausgelassen. Fast alle Oppositionsparteien sind vertreten, sie wollen die Gunst der Stunde nutzen. Die größte Oppositionspartei CHP hat ihre sorgfältig geplante Veranstaltung auf der asiatischen Seite von Istanbul abgesagt und aufgefordert, an der Demonstration teilzunehmen.

Auf dem Taksim-Platz wird getrommelt und geflötet, spontan reichen sich Frauen die Hände und tanzen im Kreis. Daneben stehen die Übertragungswagen der Fernsehsender – sie sind besprüht mit Parolen, ihren Reifen fehlt Luft und auf ihren Dächern stehen junge Männer. Die Wut auf die etablierten Medien ist enorm, denn die großen Fernsehsender berichten fast gar nicht über die Proteste. Viele der Sender sind in der Hand von Erdogan. Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook dagegen sind angefüllt mit Kommentaren über den türkischen Aufstand, es wird über nichts anderes mehr gesprochen.

Ähnlich wie beim Arabischen Frühling formiert sich der Protest übers Netz. Bekannte Künstler, Schauspieler und Politiker, auch aus dem Ausland, bekunden per Tweet Solidarität. Da die etablierten türkischen Medien kaum berichten, kursieren viele Gerüchte. In den sozialen Netzwerken wird von zwei Toten berichtet, auch Amnesty International weist darauf hin. Die Behörden bestätigten das nicht. Innenminister Muammer Güler erklärt, dass bei den landesweiten Demonstrationen 1730 Menschen festgenommen wurden, viele von ihnen seien aber wieder auf freiem Fuß.

Der Premier sagt, die Polizei sei zu hart vorgegangen

Ministerpräsident Erdogan räumt mittlerweile ein, dass die Polizei unangemessen hart vorgegangen sei, man werde Untersuchungen anordnen. Ein Berater Erdogans teilt über den Kurznachrichtendienst Twitter mit, der Istanbuler AKP-Bürgermeister werde mit Vertretern der Bürgerinitiative zusammenkommen, um über eine Lösung in dem Streit über die Bebauung des Parks zu sprechen. Doch Erdogan zeigt zwei Gesichter, er nennt die Demonstranten eine Minderheit, spricht von „Plünderern“, die Unfrieden stifteten. Eine breite gesellschaftliche Front gegen seine Politik will er freilich nicht eingestehen. Er verlässt sich auf seine große Popularität vor allem in konservativen Kreisen.

Dass sich Erdogan dem Druck der Massenproteste beugt und auf sein umstrittenes Bauprojekt verzichtet, ist sehr unwahrscheinlich – auch wenn das Projekt per Beschluss eines Istanbuler Gerichts vorerst auf Eis gelegt wurde. Der Premier bekräftigte am Samstag seine Absicht, das Anfang der 1970er Jahre am Taksim-Platz erbaute Atatürk-Kulturzentrum abreißen zu lassen. Der Plan bringt die Opposition in Rage, die sich in der Tradition des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk sieht. Er schrieb Anfang der 1920er Jahre die strikte Trennung von Staat und Religion fest – ein Grundsatz, der unter Erdogan allerdings immer weiter aufgeweicht wird. Gegner unterstellen ihm eine „geheime Agenda“, die schrittweise Islamisierung von Staat und Gesellschaft. In dieses Bild passt die Legalisierung des „Türban“, des islamischen Kopftuchs, aber auch das frühere Bekenntnis Erdogans, der in den 1990er Jahren erklärte, die Demokratie sei „wie eine Straßenbahn“: Man fahre eine Weile mit und steige aus, wenn man sein Ziel erreicht habe.

Während Erdogan zunehmend kritisiert wird, blicken viele in der Türkei auf den Staatspräsidenten Abdullah Gül. Der Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz gehe auf eine Intervention von Gül zurück, berichten türkische Medien unter Berufung auf informierte Kreise. Der Präsident habe in Telefonaten mit Erdogan, Innenminister Güler und dem Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu „Mäßigung“ gefordert, heißt es. Wenig später gab Innenminister Güler den Befehl zum Rückzug. In einer schriftlichen Erklärung mahnte Präsident Gül, die Regierung müsse „offen für den Dialog“ sein und „abweichende Meinungen und Besorgnisse anhören“. Der brutale Polizeieinsatz stieß auch international auf Kritik. Europaparlamentspräsident Martin Schulz nannte ihn „völlig unangemessen“. Das US-Außenministerium mahnte die türkische Regierung, die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit zu achten.

Ein ziviler Protest – und trotzdem setzten etliche auf Aggression

Auf den Istanbuler Straßen fordern derweil die Aktivisten, dass die Menschen friedlich bleiben. „Dies ist ein ziviler Protest!“, rufen sie. Denn sie wissen: wenn es zu Aggressionen von Seiten der Demonstranten kommt, nutzt dies vor allem der Regierungspartei. Trotzdem scheinen einige gezielt die Eskalation zu suchen, sie wollen ihre Wut gegen die Regierung loswerden – egal wie. Als sich am späten Samstagabend das Gerücht verbreitet, im nahe gelegenen Stadtteil Besiktas sei die Polizei wieder mit Tränengas im Einsatz, strömen vor allem junge Männer dorthin. Viele von ihnen haben zuvor Alkohol getrunken, ihr Ton ist harsch. Immer wieder hört man nationalistische Parolen. Vorbeifahrende Krankenwagen werden angehalten, die Demonstranten kontrollieren, ob Tränengas transportiert wird. „Hurensohn!“ schreien sie einem Wagen hinterher.

Am Sonntagmorgen herrscht bei vielen Istanbulern Katerstimmung. Dass die Proteste für Aggressionen und Ideologien aller Art genutzt werden, hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. So mancher fragt sich, ob er noch einmal auf die Straße gehen soll – oder besser nicht. Die verbliebenen Demonstranten auf dem Taksim-Platz beginnen, den Müll einzusammeln. Schließlich war ihr ursprüngliches Ziel, die Natur zu schützen. Und aufgeben, so haben sie angekündigt, werden sie noch lange nicht.Istanbul -