Seit Sommer 2014 graben sich Mineure von Stuttgart-Wangen aus unter der Erde Richtung Hauptbahnhof. Nur noch ein paar Meter fehlen. Ein Besuch im Untergrund.

Zur Audioslideshow

 

Stuttgart - Der Zugang zur Tunnelwelt ist von der Straße aus kaum zu erahnen. Rechts eine DHL-Paketstation, daneben ein Aldi, schräg gegenüber ein Reifenhändler. Hinter der Hofeinfahrt steht ein Schild: „Bahnprojekt Stuttgart-Ulm, Zuführung Ober-/Untertürkheim, Zwischenangriff Ulmer Straße“. Von hier aus graben sich die Tunnelbauer seit zwei Jahren Richtung Hauptbahnhof, in ein paar Tagen feiern sie den Durchbruch.

Zwischenangriff Ulmer Straße, das ist ein tiefer, runder Schacht mit einem Durchmesser von 22 Metern. Über dem Schacht balanciert ein Kran auf vier Stützen einen großen Container. Portalkran nennen sie das hier, 50 Tonnen Schutt kann er auf einmal aus dem Tunnel heben – „so viel wie die Ladung eines ganzes Sattelschleppers“, sagt Georg Hofer. So viel, wie sie im Tunnel Tag für Tag wegsprengen. Hofer ist seit zwei Jahren Projektleiter vom Baulos 1 B, aber die Dimensionen seien für ihn noch immer faszinierend, sagt er.

Der Zugang zur Tunnelwelt führt über einen Aufzug am Rand des betonumfassten Versorgungsschachts. Knapp 35 Meter rattert der rote Gitterkasten in die Tiefe, außen graue Betonwand, innen fünf Männer in orangefarbenen Arbeitsanzügen und mit gelben Plastikhelmen. Die Fahrt unter die Erde sei Routine, sagt Hofer, so, wie es für viele eben ganz normal sei, jeden Morgen ins Büro zu gehen und sich an den Schreibtisch zu setzen. Der Gitterkasten setzt auf, die Männer verschwinden in der runden Tunnelöffnung. „Glück auf“, sagt einer. Ein großer Lader schüttet am Grund des Schachts Geröll auf einen Haufen, es wummert und staubt, und der Lader blinkt und piept. „Man gewöhnt sich an die Lautstärke“, sagt Hofer.

Die meisten Mineure kommen aus Österreich, Tunnelbau hat dort Tradition

90 Leute arbeiten am Zwischenangriff Ulmer Straße für das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm – Mineure, Maschinenmeister, Elektriker, Mechaniker. Sie arbeiten in Schichten, immer von 6 bis 18 Uhr und von 18 bis 6 Uhr, auch am Wochenende. Die meisten von ihnen kommen wie Hofer aus Österreich. Tunnelbau habe dort eben eine lange Tradition, sagt er, vielleicht weil sie in dem kleinen Land eben so viele Berge haben, durch die sie sich graben müssen.

Nicht dass andere Länder keine guten Tunnelbauer haben könnten. Manchmal stellen sie hier jetzt auch Leiharbeiter aus Osteuropa ein, weil es gerade überall Großbaustellen gibt und die österreichischen Firmen mit der Arbeit einfach nicht hinterherkommen. Aber zwei Drittel der Leute hier kommen immer noch aus der Alpenrepublik, nach zehn Tagen Schicht fahren sie für vier Tage in die Heimat.

„Wir haben ein gewisses Nomadenleben“, sagt Hofer, „eine Tunnelbaustelle ist ja selten vor der eigenen Haustüre.“ Freitagabends setzt er sich ins Auto und fährt nach Oberösterreich zu seiner Familie, montagmorgens fährt er wieder zurück. Als seine Kinder laufen lernten, hat er das nur übers Telefon mitbekommen. Schon als er seine Frau kennenlernte, war er auswärts, um das Bergwesen zu studieren.

Sein Zimmer am Zwischenangriff ist karg eingerichtet, eigentlich hält er sich da nur zum Schlafen auf. Und wenn man ihn nach Stuttgart fragt, sagt er, dass er die Stadt nur von unten kennt. Mit dem Projekt stehe man ja in der Öffentlichkeit, aber im Tunnel bekomme man davon kaum etwas mit. Und um Leute aus der Stadt kennenzulernen, bleibt zu wenig Zeit.

Die Schutzpatronin scheint Glück zu bringen: Im Tunnel gab es keine schweren Unfälle

Georg Hofer, 50, graue Haare, randlose Brille, stapft mit schweren Schritten über den nassen, lehmigen Boden am Schachtgrund Richtung Tunnel. „Da oben, die heilige Barbara.“ In einer Nische in der Felswand steht die Schutzpatronin der Berg- und Tunnelleute, hell beleuchtet. Der 4. Dezember, Namenstag der heiligen Barbara, ist der einzige Tag außer Weihnachten und Ostern, an dem die Tunnelleute ihre Baustelle zusperren, dann wird gefeiert, nicht gearbeitet. „Wir Österreicher sind noch sehr gläubig“, sagt Georg Hofer, „vielleicht ist auch ein bisschen Aberglaube dabei.“

Die Schutzpatronin scheint Glück zu bringen, bislang gab es keine schweren Verletzungen oder Unfälle hier, das ist nicht selbstverständlich. Als Hofer vor 30 Jahren im Tunnelbau angefangen hat, rechnete man noch mit einem Toten pro Kilometer Tunnelvortrieb, das war schon fast eine Regel. Seither hat sich viel getan: Die Technik ist moderner geworden, die Sicherheitsmaßnahmen sind jetzt strenger. Ein leichter Job ist es noch immer nicht, auch wenn Hofer es nun zum Projektleiter gebracht hat und viel am Schreibtisch sitzt.

Er steigt in ein kleines, offenes Fahrzeug, eine Art Golfkart. Zu Fuß ist im Tunnel eigentlich kaum jemand unterwegs, zu gefährlich bei all den großen Fahrzeugen und Maschinen. Das Tunnelmobil rattert durch die Röhre, an der Felswand graue Kabel, ab und an ein Baustellenfahrzeug im Scheinwerferlicht, Stahlgitter, Trafoanlagen, Metallkisten voll mit Bauschutt, dann wieder schummeriges Dunkel.

Seit 6 Uhr ist Hofer nun schon auf dem Baustellengelände unterwegs, der Tag beginnt für ihn immer mit einer Morgenrunde: Röhre 61, Röhre 62, den Fortschritt kontrollieren. Drei Vortriebe laufen hier gleichzeitig, auf der einen Seite haben sie die Röhren Richtung Obertürkheim schon unter dem Neckar durchgetrieben, nur sechs bis acht Meter unter der Flusssohle, auf der anderen Seite graben sie sich unter dem Gablenberg Richtung Zentrum.

Das Dröhnen im Kopf, der Staub in der Nase und der finstere, bedrängende Stein

Tunnel 62, 1977 Meter vom Zugangsschacht entfernt. Es ist warm hier und trocken und riecht ein bisschen nach Kanalisation. Über große Röhren an der Tunneldecke wird Luft reingepumpt. Der Fels zwischen Wangen und Hauptbahnhof enthält Anhydrid, und der darf nicht feucht werden, weil er sonst aufquellen würde. „Trockener Vortrieb“ nennt Hofer das, und der sei besonders unangenehm, weil die trockene Luft auf die Lunge drückt, aber Tunnelbau sei eben kein Alm-Urlaub. Man könne sich ja nicht aussuchen, wo man vortreibt, der Verlauf der Zugtrasse sei schließlich vorgegeben. Dieses ständige Dröhnen im Kopf, der Staub in der Nase, dieser finstere, bedrängende Stein, den ganzen Tag kein Licht außer den grellen Scheinwerfern – macht einem das nichts aus? „Ich mache meine Arbeit gerne“, sagt Georg Hofer. „Wir kommen dorthin, wo noch keiner vorher war.“

Sechs Mineure arbeiten am Vortrieb, mit einer Maschine haben sie lange Löcher in das untere Drittel der grell angestrahlten Felswand gebohrt und die Hohlräume nacheinander mit Sprengsätzen befüllt. Noch knapp 16 Meter Gebirgsstock liegen vor ihnen. Läuft alles nach Plan, treffen sie in ein paar Tagen auf die Kollegen, die sich vom Hauptbahnhof aus vorgraben. „Ein Durchbruch ist immer ein Grund zum Feiern“, sagt Ewald Deutschmann, „die Leute arbeiten monatelang darauf hin, dass sie da rauskommen, dass sie wieder Licht sehen und frische Luft atmen.“ Deutschmann ist der Vorarbeiter hier am Vortrieb, vor 30 Jahren hat Hofer als Praxisstudent im Pott mal einen Schacht mit ihm abgeteuft und dabei Blut geschwitzt, sagt er, seitdem kennt man sich.

Deutschmann winkt seine Männer zurück, gleich wird gesprengt, näher als 70 Meter darf da keiner ran. „Eine Sprengung ist immer ein Risiko“, sagt er mit einem starken österreichischen Akzent, man müsse genau treffen. Er hupt mit einer kleinen Tröte, als Vorwarnung für die anderen in den Röhren, aber die Zündung überlässt er ausnahmsweise dem Bauleiter. Wer den Sprengabschlag verkauft, bekommt dafür einen Kasten Bier oder 20 Euro, erklären die Männer, und Georg Hofer macht das manchmal ganz gerne, damit die Mineure abends beim Bier an ihn denken. „Feuer“, ruft Deutschmann, dann ein lauter Schlag, ein kurzes Beben im Boden, ein dumpfer Druck, der sich auf die Ohren legt. Noch 18 Sprengungen bis zum Durchbruch.

Zur Audioslideshow