In den Familien ist der Turbozug zum Abi umstritten. Viele wünschen sich G9 zurück – auch Inka Glaser-Gallion, Elternbeiratsvorsitzende eines Stuttgarter Gymnasiums. Georg Lois hält als Vater von vier Kindern und Befürworter von G8 dagegen.

Stuttgart - Inka Glaser-Gallion bringt ihre Haltung zu G8 kurz und knapp auf den Punkt: „Das ist Bulimielernen – die stopfen das rein, spucken’s wieder aus und vergessen’s wieder, weil dann das nächste Thema kommt.“ Die Mutter von fünf Kindern (20, 19, 17, 14, 13 Jahre) weiß, wovon sie spricht. Ihre drei ältesten haben G8 absolviert, die zwei jüngsten habe sie nach diesen Erfahrungen in G9 angemeldet. Und dies, obgleich die Großen „alle gut durch die Schule gekommen sind“. Im Degerlocher Wilhelms-Gymnasium, wo Glaser-Gallion Elternbeiratsvorsitzende ist, gibt es beide Züge. Doch weil G9 gedeckelt sei, hätten viele Familien diese Möglichkeit nicht und würden stattdessen auf Privatschulen ausweichen – „das System ist ungerecht“, meint Glaser-Gallion.

 

Tatsächlich hätten allerdings auch ihre drei G8-Kinder noch Sport getrieben: Fußball, Tennis, Reiten, Hockey. Weshalb dann die Entscheidung zu G9 bei den beiden Kleinen? „Ich habe gesehen, die Reife ist nicht da nach zwölf Jahren – ein Jahr macht da wahnsinnig viel aus“, meint Glaser-Gallion. Das gelte auch im Blick auf die Entscheidungsfindung, was sie nach dem Abi machen wollten. „Die Älteste hat sofort BWL studiert, der Zweitälteste hat gejobbt, ist gereist und hat dann Praktika gemacht – jetzt studiert er in Maastricht Economics.“ Der Drittälteste habe mit 17 Abi gemacht und studiere jetzt an der TU München Elektrotechnik – „aber er durfte nicht an der Ersti-Party teilnehmen“, berichtet seine Mutter. Minderjährige fielen somit raus aus der Gemeinschaft. Ganz zu schweigen davon, dass ihr 17-Jähriger sich auch im Fitness-Studio nicht allein anmelden durfte. Dass es an der Hochschule in Konstanz, wo die Tochter studiert, einen Elterntag gebe, versteht sie nicht: „Was soll ich da?“

Elternvertreterin kritisiert G8 als „reines Sparmodell“

Heute bereut sie, den 17-Jährigen schon mit fünf Jahren eingeschult zu haben. Alle ihre drei Großen hätten gesagt, sie wären gern noch ein Jahr länger zur Schule gegangen. „Für mich“, sagt Inka Glaser-Gallion, „ist G8 ein reines Sparmodell, denn nach hinten geht die Rechnung nicht auf: Viele studieren gar nicht gleich, sondern reisen herum, machen ihr soziales Jahr oder ein Projekt in Indien.“ Oder sie wiederholen die Kursstufe 1. Einer Statistik des Kultusministeriums zufolge erreicht die Zahl der Wiederholer in dieser Klassenstufe mit 3,1 Prozent mit Abstand den Spitzenwert in den baden-württembergischen Gymnasien. Da der Modellversuch G9 noch nicht so weit „aufgewachsen“ ist, handelt es sich dabei ausschließlich um G8-Schüler.

„Ich habe den Eindruck, dass der Lehrplan in G8 nicht angepasst wurde“, sagt Glaser-Gallion. Dies moniert auch Georg Lois, der eigentlich „ein großer Befürworter von G8“ ist – allerdings als Vater, nicht als stellvertretender Vorsitzender des Gesamtelternbeirats (GEB) der Stuttgarter Schulen, wie er betont. Der GEB Stuttgart hatte im Januar 2012, als der Modellversuch mit G9 gestartet war, gefordert, dass jede Schule, deren Schulkonferenz sich für eine Teilnahme am Modellversuch G9 ausgesprochen habe, auch die Möglichkeit dafür erhalten solle. Doch die Landesregierung wollte und will den Modellversuch nicht ausweiten. Daran hat auch eine Kampagne des Philologenverbands nichts ändern können.

Georg Lois bekennt sich als Vater von vier Kindern klar zu G8

Lois sagt, mit seiner Haltung als G8-Befürworter sei er eher eine Ausnahme bei den Eltern. „Dass die Kinder nach dem Abi zu jung sind, dieses Argument verstehe ich nicht“, sagt Lois. Überall im Ausland seien es zwölf Jahre bis zur Hochschulreife, argumentiert der Vater von vier Kindern. Seine Älteste sei in Griechenland aufgewachsen, habe nebenher ihre Deutsch-Scheine im Goethe-Institut gemacht, getanzt, geschauspielert, studiere nun mit 23 Jahren im achten Semester Jura in Erlangen – und habe sich gewundert, weshalb ihre zwei jüngeren Schwestern, die am Königin-Katharina-Stift das G8 durchlaufen haben, so viel lernen mussten. Allerdings hätten auch diese nebenher Klavier gelernt, Basketball gespielt mit zwei- bis dreimal Training pro Woche, berichtet Lois. „Es ist nicht so, dass die Schüler keine Zeit haben“, meint er. Auch sein 14-jähriger Sohn gehe aufs G8 und spiele nebenher Fußball.

Lois trainiert selber Jugendfußballmannschaften, darunter auch viele G8-Schüler, und sagt: „Ich spüre keinen Riesenstress bei den Jugendlichen und Kindern. Die gehen alle am Wochenende weg.“ Nur bei wichtigen Klassenarbeiten sagten sie schon mal das Training ab. Mit betreutem Studieren sei er in der eigenen Familie allerdings noch nicht konfrontiert worden: „Ich musste bei meinen Töchtern nicht mit zur Uni.“ Aber eines kritisiert auch Lois: „Es bleibt wenig Zeit zur Wiederholung und zur Vertiefung.“ Er plädiert allerdings dafür, „eher den Stoff anzupassen, als wieder zu G9 zurückzukehren“.

G9 lässt pubertierenden Kindern mehr Zeit, „auch um zu zweifeln oder zu revoltieren“

Das sieht Inka Glaser-Gallion genau umgekehrt. „Die Frage ist doch, was wir mit der Schulzeit wollen: Nur Wissen reinstopfen? Nein“, sagt sie. „Die Kinder brauchen eine breite Bildung und auch eine Persönlichkeitsbildung.“ Beides falle bei G8 hinten runter. Gerade in der Pubertät bräuchten viele Kinder mehr Zeit – „auch um zu zweifeln oder zu revoltieren“. Für die Familie jedenfalls sei G9 entspannter. Allerdings verpflichte das die Eltern auch, stärker als bei G8, die Kinder über schulische Dinge hinaus zu fordern, etwa, sie anzuregen, im Sportverein Jüngere zu trainieren oder sich anderweitig zu engagieren. Ihre Jüngste, so Glaser-Gallion, besuche mehrere AGs, engagiere sich in einem Flüchtlingsprojekt, singe im Chor – alles, ohne in Zeitnot zu kommen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: „Die hat nachmittags keinen Unterricht.“