Der Turner Marcel Nguyen arbeitet in Stuttgart auf sein Comeback nach seiner schweren Knieverletzung hin – trotz seines Wegzugs. Das Ziel des Olympiazweiten von London 2012 ist die Teilnahme an den Spielen in Rio de Janeiro.

Sport: Gerhard Pfisterer (ggp)

Stuttgart - In der Trainingshalle läuft das Radio, aktuelle Charthits. Es geht bergauf bei Marcel Nguyen, eine Orthese stabilisiert sein rechtes Knie, von Woche zu Woche kann er nach seinem Kreuzband- und Meniskusriss im vergangenen September wieder umfänglicher üben. Zurzeit tut er das oft in Stuttgart, obwohl er die Stadt eigentlich verlassen hat. Aber eben nicht so ganz. Während der Semesterferien mischt sich der Olympiazweite von London 2012 im Kunstturnforum in Bad Cannstatt unter seine bisherige Trainingsgruppe um den Coach Valeri Belenki.

 

Seit dem Herbst studiert Marcel Nguyen in München BWL und ist dorthin zurückgekehrt, heim nach Unterhaching. Dort trainiert er unter Anleitung seines Entdeckers Kurt Szilier, wenn er nicht an der  Ludwig-Maximilians-Universität Vorlesungen besucht. „Ich will mich gut auf die Zeit nach der Karriere vorbereiten. Und es ist ja nicht so, dass ich jeden Tag zehn Stunden an der Uni sein muss. Wir haben da eine gute Vereinbarung getroffen, ich werde gut beim Sport unterstützt“, sagt er.

Das Kapitel Stuttgart ist nicht ganz abgeschlossen

Seine bisherige Wohnung in Bad Cannstatt hat der 27-Jährige aufgegeben. Stattdessen will er nun mit seinem früheren Mitbewohner Anton Wirt wieder eine WG gründen für die Zeit, die er in Stuttgart verbringt. Auch Daniel Weinert, ein weiterer Turner aus der Belenki-Riege, ist ein Kandidat dafür. „Es war von vorneherein klar, dass ich das Kapitel Stuttgart nicht ganz abschließe“, sagt Marcel Nguyen, der allerdings den MTV Stuttgart verlassen hat und künftig wieder für die KTV Straubenhardt (Bundesliga) und den TSV Unterhaching (alle sonstigen Wettkämpfe) antritt. Abgesehen von einem Rückschlag im Dezember, als ein kleine zweite Operation an seinem rechten Knie nötig war, verläuft der Heilungsprozess gut.

Im Training springt er schon mal einen ein Meter hohen Absatz herunter. Am Barren, am Reck, an den Ringen und am Pauschenpferd kann er schon wieder Elemente üben, ohne Abgänge freilich. „Ich fühle mich gut. Ich merke nur, dass das Bein schwächer und etwas instabiler ist als gewohnt – ich muss aufpassen, dass ich nicht blöd lande“, sagt der zweimalige Barren-Europameister und Weltcupsieger der Saison 2012/13. „Von Woche zu Woche kann ich mehr machen, ich bin ganz zufrieden.“

Über Glasgow nach Rio

Was ihn antreibt, ist die Aussicht auf eine weitere Olympiateilnahme 2016 in Rio de Janeiro. Die Tickets dafür werden bei den Weltmeisterschaften Ende Oktober in Glasgow vergeben. Um wiederum in Schottland dabei zu sein, muss er vorab die nationale Qualifikation meistern. Beim zweiten Ausscheidungswettkampf dazu im September muss er sich spätestens beweisen, so ist das mit dem Bundestrainer Andreas Hirsch abgesprochen. „Das Wichtigste ist dieses Jahr, dass wir uns als Mannschaft in Glasgow für Olympia qualifizieren“, sagt Marcel Nguyen. „Ich möchte nicht mit einer Verletzung meine Karriere beenden. Ich möchte mich noch mal rankämpfen und noch mal Olympische Spiele turnen, denn das ist einfach ein super Erlebnis.“

Marcel Nguyen ist der begabteste Turner in Deutschland neben dem gleichaltrigen Rekordmeister Fabian Hambüchen. Mit seinen zwei Olympia-Silbermedaillen (Mehrkampf und Barren) hat er sich 2012 unter den größten Turnern verewigt, die das Land jemals hervorgebracht hat. Anschließend ließ er noch den Gesamtweltcupsieg folgen, ehe eine Schaffenspause mit längerem Aufenthalt in Asien folgte, wo er seit seinem Olympiacoup sehr beliebt und auch als Werberepräsentant sehr gefragt ist: „Es ist schon ganz cool, ein bisschen rumzureisen und etwas anderes zu sehen als nur die Turnhalle.“ Im Februar erst hatte er dagegen in Stuttgart Besuch von einem britischen TV-Team, das über Sportler auf ihrem Weg nach Rio berichtet.

Schmerz geht vorüber, Stolz bleibt ewig

„Die Verletzung war natürlich blöd, weil ich auf einem guten Weg war. Aber es ist allgemein im Sport so, dass man mit Rückschlägen klarkommen muss“, sagt Marcel Nguyen. „Ich weiß, wie es ist, oben zu sein – und wie es ist, unten zu sein.“ Vor vier Jahren hat er schon einmal Ähnliches erlebt. In Topform zog er sich einen Wadenbeinbruch zu, der ihn den Start bei der WM 2010 in Rotterdam kostete. Er kam jedoch besser zurück als zuvor. „Ich kenne die Situation, trotzdem ist es jetzt eine ganze Ecke schlimmer“, sagt Marcel Nguyen. „Es motiviert mich auch noch mehr, wenn Leute denken, dass ich es nicht mehr schaffe.“

Schon 2012 hat er sich auf die Brust den Spruch „Pain is temporary, pride is forever“ (Schmerz geht vorüber, Stolz bleibt ewig) tätowieren lassen. Das ist sein Motto, wenn er in der Trainingshalle für die nächste Olympiateilnahme schuftet – während im Radio aktuelle Charthits laufen.