Der Untersuchungsausschuss des Bundestages, der die Nazi-Mordserie aufklären soll, hat sich zu einer Art moralischer Instanz entwickelt. Doch beim Auftritt von Wolfgang Schäuble zeigt sich, dass der Wahlkampf diese Institution spalten könnte.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Der Zeuge gibt zu Protokoll, er sei Jurist von Beruf, aber „zurzeit Bundestagsabgeordneter und Bundesfinanzminister“. Das ist grandios untertrieben. Wolfgang Schäuble, der hier spricht, gehört dem Parlament seit 40 Jahren an, es gibt überhaupt keinen, der länger dabei ist. In der Regierung verfügt er über die mit Abstand größte Erfahrung, unter anderem, weil er auch zweimal Innenminister war. Die Woche über sollte er den Euro retten, am Freitag geht es dann um seinen persönlichen Ruf. Schäuble ist der bislang prominenteste Zeuge vor dem Neonazi-Untersuchungsausschuss – auch der unbotmäßigste, wenn auch nicht der spektakulärste. Zur Sache hat er wenig beizutragen. Er scheint es auch nicht zu wollen. Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit als Innenminister waren die meisten der Morde, um die es hier geht, schon passiert.

 

Schäubles Angaben zur Person – das ist vielleicht der demütigste Augenblick seines Auftritts. Der Minister gibt zu Protokoll, er sei „mit diesen schrecklichen Morden nur sehr marginal befasst gewesen“. Zudem habe er sich „nicht als oberster Polizist der Bundesrepublik Deutschland verstanden“. Doch für Schäuble hätte durchaus die Möglichkeit bestanden, Einfluss auf die Ermittlungen zu nehmen. Im Zweifelsfall hätte er das Bundeskriminalamt (BKA) selbst gegen den Widerstand der Länder mit der Mordserie betrauen können. Das wurde am Rande eines Treffens der Innenminister von Bund und Ländern Anfang Mai 2006 erörtert. Es war ein wahrhaftiges Gipfeltreffen. Die Konferenz fand auf der Zugspitze statt. Schäuble versichert, er könne sich nicht daran erinnern, dass ihm damals der Vorschlag unterbreitet worden sei, das BKA als oberste Instanz einzuschalten. „Und wenn dieser Vorschlag gemacht worden wäre, hätte ich ihn abgelehnt“, fügt er hinzu. Diese Ansicht vertrete er noch heute.

Dies ist die 47. Sitzung des Untersuchungsausschusses – 500 Stunden Aufklärungsarbeit verbergen sich hinter dieser Zahl. 59 Zeugen waren vor Schäuble schon geladen: gewesene und amtierende Minister, Staatsanwälte, Polizisten, Offiziere. Manche der Zeugen haben sich auch schuldig gemacht – in einem Sinn, der von keinem Paragrafen beschrieben wird. Viele bekundeten ihr Bedauern, Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen. Manche haben sich sogar entschuldigt. So viel Selbstkritik hält Schäuble nicht für notwendig. Das Maximum an Zerknirschung, das von ihm zu protokollieren ist, lässt sich mit dem Bekenntnis zusammenfassen, „dass wir uns alle geirrt haben“. Er selbst habe niemals geglaubt, „dass diese Rechtsextremen zu Mörderbanden werden“. Warum drei Neonazis klammheimlich zehn Menschen umbringen konnten, ohne dass man ihnen auf die Spur gekommen ist – das hat bisher keiner der Zeugen zu erklären vermocht. Die meisten fügten nur neue Mosaiksteine zu einem verheerenden Bild – einem Bild, das zwischen persönlichem Unvermögen und kollektivem Versagen changiert.

Wofür dieser Ausschuss gegründet worden ist, drückt sich in zehn Fragen aus. Sie sind in einem Dokument nachzulesen, welches das Aktenzeichen 17/8453 trägt. Das Papier beschreibt den vom Bundestag beschlossenen Untersuchungsauftrag. Doch die eigentliche Mission ist nirgendwo schriftlich fixiert. Sie ist mit Händen zu greifen, wenn man sieht, wer regelmäßig auf der Zuhörertribüne Platz nimmt: Opferanwälte, Parlamentsdelegationen aus Ankara, Vertreter muslimischer Verbände. Das Vertrauen, das der Rechtsstaat und seine Organe verspielt haben, soll in diesen Sitzungen wiederhergestellt werden. So ist dieser zweite Untersuchungsausschuss der 17. Legislaturperiode vielleicht wichtiger als alle seine Vorläufer. Er ist zu einer Art moralischer Instanz avanciert.

Das Bemühen um Aufklärung hat ein Gesicht – nein, es sind drei Gesichter. Schäuble blickt ihnen entgegen. Zwei von ihnen kannten bisher nur regelmäßige Nutzer des Abgeordnetenhandbuchs. Sebastian Edathy sitzt dem Zeugen vis-a-vis. Er ist der Vorsitzende des Untersuchungsgremiums. Als Schäuble noch Innenminister war, da war er schon einmal dessen Gegenpart: als Vorsitzender des Innenausschusses, der in wesentlichen Punkten andere Ansichten vertrat.

Edathys Parlamentskarriere hatte einst als „stellvertretender migrationspolitischer Sprecher“ der SPD-Fraktion begonnen – da war Schäuble schon 25 Jahre Politprofi. Jetzt bekleidet der Genosse ein Amt, das ihm an manchen Tagen mehr Fernsehpräsenz verschafft als seinem Parteichef Sigmar Gabriel. Seine Rolle ist die eines Moderators, doch er gebärdet sich bisweilen auch als Inquisitor: unerbittlich, ohne falschen Respekt vor den imposanten Titeln, die seine Zeugen zu Protokoll geben.

Edathys Schreibtisch in seinem Abgeordnetenbüro ähnelt der Materie, mit der er seit knapp einem Jahr die Tage und viele Nächte verbringt: Akten stapeln sich darauf so hoch, dass der smarte Jurist dahinter verschwindet, wenn er sich niedersetzt und auf der monströsen Halde auch noch einen Aschenbecher platziert. Akten sind auf dem Fußboden entlang der Bücherregale aufgeschichtet, sie türmen sich auch auf den Sesseln, die für Besucher gedacht sind – ein papierener Dschungel, der kaum zu durchdringen ist. 5000 Aktenordner haben sich in der Obhut des Untersuchungsausschusses bisher angesammelt, 1000 davon sind geheim und werden unter Verschluss gehalten. Wenn man diese Dokumente des Versagens aneinander reihen würde, bräuchte es dafür ein Regal, das 400 Meter lang wäre.

Die Sitzungen verlaufen stets nach einem Ritual: Edathy hat zunächst das Wort. Er nutzt es ausgiebig, um Schäuble aufs Glatteis zu führen. Einen giftigen Unterton kann er sich nicht immer verkneifen. Doch Schäuble lässt sich nicht verunsichern. Er reagiert unwirsch, bisweilen herrisch. Dann erhält Clemens Binninger das Fragerecht, Obmann der Union im Ausschuss. 23 Minuten später darf seine SPD-Kollegin Eva Högl übernehmen. So schreibt es das Reglement vor. Die Redezeiten sind entsprechen der Fraktionsstärke aufgeteilt. „Berliner Stunde“ nennt sich das. Eine Berliner Stunde hat 62 Minuten.



Binninger und Högl sind die Gegenspieler derer, die sich hier zu rechtfertigen versuchen. Untereinander benehmen sie sich keineswegs wie Gegenspieler. So unterscheidet sich dieser Ausschuss vom übrigen Parlamentsbetrieb. Alle Mitglieder hätten akzeptiert, „dass wir nicht die Aufgabe haben, untereinander zu streiten, sondern gemeinsam“, sagt der Vorsitzende Edathy. Das Bekenntnis zum Miteinander mag auch darin begründet sein, dass die Verantwortung für die Fehler und Pannen, die hier besprochen werden, nicht eindeutig einer bestimmten Partei zugeordnet werden kann. Vor dem Mikrofon, in das an diesem Freitag der CDU-Minister Schäuble spricht, wird in einigen Wochen sein SPD-Vorgänger Otto Schily sitzen.

Das Gremium zeichnet eine ungewöhnliche Geschlossenheit aus. Das zeigt sich in kleinen Gesten. Zwischenfragen werden ganz selbstverständlich gestattet, auch wenn sie aus anderen Fraktionen kommen. Und wenn einer der Abgeordneten länger braucht, um seinen Fragenkomplex abzuarbeiten, dann nehmen die Kollegen in Kauf, dass die Berliner Stunde auch einmal 65 oder 70 Minuten dauern kann. Schäubles Auftritt lässt sich freilich nicht auf einen Nenner bringen. Erste Risse werden erkennbar, parteipolitisch motivierte Klüfte.

SPD-Obfrau Högl hat die freundlichste Stimme in der Runde. Hinter ihren Höflichkeiten, einem vermeintlichen Verständnis für die Zeugen, lauern messerscharfe Fragen. Schäuble gegenüber klingen sie noch spitzer. Und wenn sie nach stundenlangen Sitzungen abwägt, ob ihr hier „Dummheit, Dussligkeit oder Vorsatz“ begegnet sind, wie sie es einmal formuliert hat, dann platzt aus jedem dieser Worte die Empörung über den ganzen Skandal, der sich mit dem Kürzel NSU verbindet.

Der CDU-Mann Binninger, Abgeordneter aus Sindelfingen und ehedem selbst Polizist, hat sich mit hartnäckigen, unbeirrbaren Zeugenverhören Respekt auch bei der politischen Konkurrenz erarbeitet. Seine Unnachgiebigkeit ärgert nicht nur Leute wie den Präsidenten des Bundeskriminalamtes, der ob Binningers Nachfragen einmal völlig die Contenance verlor. In den Reihen der Union und im Sicherheitsapparat lästern manche hinter vorgehaltener Hand, ihr Obmann im Ausschuss möge sich gefälligst nicht so aufklärerisch aufführen.

Die Geschichte dieses Ausschusses ist eine Geschichte übler Überraschungen. Je länger der Fall erörtert wird, desto verworrener und haarsträubender erscheint er. Akten im Reißwolf, enttarnte Spitzel – „es geht nie ohne Merkwürdigkeiten“, so resümiert Binninger. Manche dieser Merkwürdigkeiten sind besonders kurios. So wurde nach dem Polizistenmord in Heilbronn mehrfach ein Hypnotiseur eingesetzt. Die Hamburger Polizei hat gar einen Geisterbeschwörer in Anspruch genommen. Sie hoffte, so den Mördern des Gemüsehändlers Süleyman Taköprü auf die Spur zu kommen. Und in Brandenburg wollte sich der Verfassungsschutz nicht allein auf seine Vorschriften verlassen, als es darum ging zu entscheiden, ob der vorbestrafte Neonazi Carsten S. als Spitzel beschäftigt werden dürfe. Die Herren vom Geheimdienst befragten deshalb einen, den sie für eine „moralische Autorität“ hielten – verschwiegen aber, um wen es sich handelte.

Am Ende muss der Untersuchungsausschuss mehr vorweisen können als ein Sammelsurium skurriler Details. Viel Zeit bleibt nicht mehr dafür. Ein paar Sitzungswochen noch, dann beginnt der Wahlkampf. Clemens Binninger verdrießt das nicht: „Mein Ehrgeiz ist es, alle wichtigen Fragen zu stellen.“