Es gibt Leute, die haken ihn noch immer unter „Schlager“ ab. Dabei ist Udo Jürgens einer der ganz großen Unterhaltungskünstler – und demnächst auch wieder auf Tournee.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Kann man Schlager falsch verstehen? Zumindest wäre das nicht im Sinne seiner Erfindung. Der Schlager lebt von seiner Eindeutigkeit, von seinem Oberflächenglanz. Wenn Helene Fischer „Atemlos“ singt, können inzwischen Hunderttausende in Deutschland mitsingen, weil alles in diesem technisch frappierend sauber gearbeiteten Mitmachtitel just auf die eine Zeile hin ausgerichtet ist: „Alles, was ich will, ist das / große Freiheit pur, ganz nah / Nein, wir wollen hier nicht weg / alles ist perfekt.“ Das drängt auf Wiederholung in Unendlichkeit. Nach dem Lied ist vor dem Lied – vollkommen unmissverständlich.

 

Von Udo Jürgens dagegen gibt es Titel, die werden nun schon über Jahre hinweg erstaunlich missverstanden. Es gibt viele Menschen, für die ist „Griechischer Wein“ ein typischer Urlaubsschlager. Seltsam. Sicher, Jürgens veröffentlichte ihn im Jahr 1975, zu einer Zeit, da solche Urlaubsschlager gerade Konjunktur hatten, von „Eviva Espana“ über „Bella Italia“ bis hin zu „Fiesta Mexicana“. Aber zu glauben, dass es im „Griechischen Wein“ tatsächlich nur um den Lobpreis des Genusses griechischen Weins gehen könnte, erfordert die völlige Missachtung des Textes. Plus der Tatsache, dass sich die Refrainmelodie zwar wirklich zu lauter, sehnender Höhe aufschwingt, um dann aber doch zum Schluss in einem sehr leise verhaltenen Moll zu münden: „In dieser Stadt werd’ ich immer nur ein Fremder sein / Und allein“.

Kurzum: man kann den Schlager „Griechischer Wein“ grandios missverstehen. Und warum? Weil er gar kein Schlager ist. Sondern ein Lied.

„Griechischer Wein“ sollte kein Urlaubsschlager werden

Gerade hat sein Sänger in der ARD-Dokumentation „Der Mann, der Udo Jürgens ist“ erzählt, wie er die Idee zur Melodie selbst 1973 tatsächlich aus einem Sommerurlaub in Griechenland mitgebracht hat. Dass ihm aber von Anfang an klar war, dass er daraus auf gar keinen Fall einen „Urlaubsschlager“ machen wollte. Sondern zwei Jahre gewartet hat, bis endlich der passende, also für ihn richtige Text gefunden war, geschrieben gemeinsam mit Michael Kunze. Und so entstand zur Urlaubsmelodie aus dem griechischen Sommer die Geschichte von dem abendlichen Spaziergänger irgendwo in Deutschland, der in einer Kneipe durch Zufall in die Gesellschaft jener Menschen kommt, die man in Deutschland in den siebziger Jahren (und noch weit darüber hinaus) „Gastarbeiter“ nannte und die dort abends von jenem Zuhause träumen, das ihnen die Deutschen damals partout nicht bieten wollten.

Udo Jürgens, der an diesem Dienstag achtzig Jahre alt wird, nennt seine Werke selbst schlicht „Lieder“. Sein künstlerisches Leben sei eine Suche nach Liedern. Und das meint er keineswegs irgendwie esoterisch, sondern recht praktisch. Jürgens sieht seinen Erfolg als „Unterhaltungskünstler“ (auch dies O-Ton U. J.) sehr handwerklich begründet: „Ein Lied muss eine tolle Melodie haben. Ein Lied muss aber auch einen Text haben, der beim Hörer eine Stimmung trifft, ein Gefühl vermittelt. Der Hörer muss etwas erkennen, sich erinnern, eine Geschichte spüren.“ Die Franzosen nennen derartige Unterhaltungskunst „Chanson“. Und somit hätten wir weit jenseits des Schlagers die passende Bezeichnung für Udo Jürgens: Er ist ein Chansonnier deutscher Sprache. Nein, nicht „ein“, sondern der Chansonnier deutscher Sprache. Ausgezeichnet durch die Ernsthaftigkeit seiner Arbeit und einem nun weit über fünf Jahrzehnte währenden Erfolg beim Publikum.

Sehr ernsthaft beschloss der sechzehnjährige Klagenfurter Jürgen Udo Bockelmann 1950, gegen den Widerstand der großbürgerlichen Familie und trotz der Ausbildung zum klassischen Musiker am Mozarteum in Salzburg besagte Karriere eines Unterhaltungssängers anzustreben. Der Weg war nicht leicht und führte über unzählige bunte Abende einmal kreuz und quer durch die Provinz. Der junge Mann, der sich aus seinen vertauschten Vornamen das Künstler-Ego Udo Jürgens bastelte, hatte zweifellos Talent, das bestätigen seine Kollegen von damals. Aber der junge Mann hatte auch Ansprüche an das Niveau seiner Arbeit. Er war erstaunlich ernsthaft bei der Sache. Da trällerten sich zeitgleich seine Altersgenossen Cornelia Froboess, Gitte, Rex Gildo oder Peter Kraus deutlich leichtzüngiger in die Schlagerparaden.

Fünfzehn Jahre über die Dörfer gezogen

Fünfzehn Jahre dauerte es, bis Jürgens mit „17 Jahr’, blondes Haar“ einen ersten Erfolg in Deutschland erzielte. Und gleich darauf, im Frühjahr 1966, eröffnete ihm der erste Platz beim Grand Prix d’Eurovision mit „Merci Cherie“ die Weltkarriere. Wer übrigens aus der melodischen Einfachheit der ersten Zeilen auf die Simplizität des Ganzen schließt, irrt gewaltig und sollte sich „Merci Cherie“ noch einmal in Ruhe komplett anhören, inklusive Tonsprüngen und Tonartwechsel. Dann kann man nachvollziehen, dass sich der 32-Jährige damals in Luxemburg vor lauter Versagensängsten eigentlich kaum auf die Bühne traute.

Seitdem komponiert und singt Udo Jürgens Lieder, hat sich vielfach entwickelt und neu erfunden („Udo ’70“; „Udo ’80“), wurde mal zum Discohüpfer („Ich weiß, was ich will“), mal zum satirischen Milieuforscher („Aber bitte mit Sahne“), mal zum Protestler („Lieb Vaterland“), nahm sogar große beinah-sinfonische Dichtungen mit den Berliner Philharmonikern auf („Wort“), in denen er über die Kraft und die Abgründe der Sprache räsonierte und sich sogar traute, im Hintergrund ganz leis, eher spür- als hörbar das hysterische, enthemmte Geschrei der Massen bei einer NS-Propagandarede einzublenden.

Ist es mit achtzig nicht langsam genug? Nein. Die Vorstellung, ausreichend Lieder gefunden zu haben, bleibt ihm von Herzen fremd. Gerade ist im Frühjahr sein 38. Studioalbum erschienen, „Mitten im Leben“. Und am 31. Oktober startet seine nächste Tournee. Premiere ist in Stuttgart. Und wo? In der Liederhalle? In der Porsche-Arena? Nein, natürlich in der Schleyerhalle.

Udo Jürgens redet sich auch das Alter nicht schön

„Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei“, so besingt Helene Fischer die große Sehnsucht im kleinen Alltag. Udo Jürgens singt derweil „Ich war noch niemals in New York“ – auch ein großer Mitsing-Titel. Während Helene Fischer zum Schluss kommt: „Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich / Komm nimm’ meine Hand und geh’ mit mir“, hat Jürgens eine ganz andere Pointe parat. Der Aufbruchwillige kehrt von seinem abendlichen Zigarettenkauf dann doch nach Hause zurück. „Sie fragte: ,War was?‘ – ,Nein, was soll schon sein.‘“ Keine Frage, bei Fischer möchte man sein. Na ja, vielleicht. Aber bei Jürgens ist man.

Um seinen „New York“-Song kommt Jürgens bei keinem Konzert herum. Spätestens im Zugabenteil, gekleidet im berühmten weißen Bademantel gibt er ihn zum Besten. Er weiß, so hat er es in Interviews jetzt zu Protokoll gegeben, dass der achtzigste Geburtstag eine Grenze aufscheinen lässt, die auch er nicht ignorieren kann. Aber anders als die allermeisten der Branche singt er weiter grundsätzlich live, besteht auf erstklassiger Bigband-Begleitung durch den langjährigen Weggefährten Pepe Lienhard. Seine älter gewordene Stimme durch elektronische Tricks noch mal aufpeppen und verjüngen? Undenkbar.

Udo Jürgens zeigt, dass Unterhaltung nur dann wirklich gut sein kann, wenn sich künstlerisches Potenzial mit Handwerk und Ernsthaftigkeit verbindet. Ach ja, und dann fehlt immer noch etwas: „Es muss auch Haltung dabei sein“, sagt Udo Jürgens. „Die steckt nicht umsonst im Wort Unterhaltung mit drin.“ Eben: Respekt.