Der Rechtsmediziner Michael Tsokos hat sich in einem Buch mit den größten Irrtümern seiner TV-Kollegen befasst.

Stuttgart - Heutzutage gehören Rechtsmediziner zum festen Inventar der meisten Krimireihen, aber es ist noch gar nicht so lange her, dass dieser Berufsstand in Deutschland praktisch unbekannt war. 1997 bekam der „Tatort“ aus Köln mit dem markanten Glatzkopf Joe Bausch, im Brotberuf Gefängnisarzt, seinen ersten populären Rechtsmediziner. Einige Jahre später hatte der WDR die Idee, eine völlig neue Kombination auszuprobieren: Seit 2002 muss sich Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) im „Tatort“ aus Münster mit dem ebenso blasierten wie brillanten Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) herumärgern.

 

Natürlich ahnen die meisten Zuschauer, dass ein TV-Krimi nur bedingt die Wirklichkeit wiedergibt. Wenn man aber praktisch gar nichts über einen Berufsstand weiß, füllt das Fernsehen diese Lücke fast automatisch; deshalb hat Boerne das Bild des Rechtsmediziners in der Öffentlichkeit geprägt wie kein anderer. Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité, hat nun ein kurzweiliges Buch über die größten Irrtümer seiner Bildschirmkollegen geschrieben.

Rechtsmediziner als Ermittler: Tsokos versichert, seine Kollegen und er würden niemals „auf die Idee kommen, nach Feierabend Verdächtige zu beschatten oder uns nachts Zutritt zu einem Tatort zu verschaffen“. Es sei „pure Fantasie“, dass Rechtsmediziner bei der Verhaftung und Vernehmung von Verdächtigen zugegen seien. Großen Anteil am Bild des Berufsstands hätten auch US-Serien wie „CSI“ oder „Criminal Minds“, bei deren Hauptfiguren es sich jedoch um hochrangige Kriminalermittler mit naturwissenschaftlicher Ausbildung handle, ihre Arbeitsweise habe mit der hiesigen Realität nichts zu tun.

Der „kriminaltechnische Super-Gau“

Angehörige identifizieren Opfer: Tsokos nennt diesen Fehler den „kriminaltechnischen Super-Gau“. Bei etwa der Hälfte aller Morde handele es sich um Beziehungstaten. Häufig finde die Spurensicherung erst während der Obduktion statt. Angehörige würden zwangsläufig DNS-Spuren, Fasern oder gar Fingerabdrücke auf dem Leichnam hinterlassen. Weil sich anschließend nicht klären lasse, ob diese Spuren schon vorher vorhanden waren, wären diese Personen „aus dem Schneider“. Aus dem gleichen Grund sei es ein Unding, dass Unbefugte unangemeldet Zutritt zu den Sektionssälen erhielten. Diese Räume seien das „Allerheiligste“. Ohnehin seien die postmortalen Veränderungen oft so stark, dass eine Identifizierung anhand der Gesichtszüge kaum noch möglich sei. Deshalb seien unveränderlicher Kennzeichen wie Operationsnarben und Tätowierungen meist aussagestärker.

Der Tod als Schlafes Bruder: Wenn sie nicht gerade durch Gewalteinwirkungen entstellt sind, sehen Tote im Film meist wie blasse Schlafende aus. Die Veränderungen, die die sterblichen Überreste durchlaufen, werden den Zuschauern erspart. Durch Fäulnis- und Gasbildungen verfärbe sich die Haut aber oft bläulich-violett und bilde Leichenflecken aus. Diese Flecken seien auch ein Grund, warum sich Sektionssäle keineswegs im Keller befinden. Kunstlicht würde die Verfärbungen, die auch Aufschluss über eine Todesursache geben können, verfremden. Und während die Leichen im Krimi gern tagelang auf Obduktionstischen herumliegen, werden sie in der Regel unmittelbar nach der Obduktion zur Bestattung freigegeben. Ins Reich der Fabel gehöre auch die verbreitete Überzeugung, Haare und Fingernägel wüchsen nach dem Tod weiter.

Serienmörder in Serie: Die spannendsten Krimis sind meist jene, in denen die Ermittler einen Serienmörder suchen. Spätestens seit dem „Schweigen der Lämmer“ (1991) bilden diese Thriller ein eigenes Genre. Bei den Tätern handelt es sich nach Tsokos’ Erkenntnissen aber keineswegs um brillante Superhirne. Ihre Intelligenz werde ebenso überschätzt wie ihre Anzahl, auch wenn der Rechtsmediziner die Autoren in Schutz nimmt: Es sei dramaturgisch natürlich interessanter, „wenn man es nicht mit einem Blödmann zu tun hat“, der seiner Verhaftung nur durch pures Glück entgehe.

Zwei Finger an der Halsschlagader

Rechtsmediziner sind schräge Vögel: Tsokos räumt zwar ein, dass einige seiner Kollegen in der Tat „etwas spezielle Zeitgenossen“ seien, die auch die eine oder andere Marotte hätten, aber er kenne in seinem Umfeld niemanden, der den oftmals „chronisch schlecht gelaunten Zynikern“ aus dem Fernsehen ähnele. Rechtsmediziner seien „absolut lebensfrohe und fröhliche Menschen“, die sich anders als im „Schweigen der Lämmer“ auch keine Mentholpaste unter die Nase schmierten, um sich vor dem Fäulnisgeruch zu schützen. Der Geruchssinn sei im Gegenteil sehr wichtig, weil verschiedene Gerüche über unterschiedliche Todesursachen Aufschluss geben.

Zwei Finger am Hals: Auf dieses Detail reagiert Tsokos besonders allergisch. In beinahe jedem Krimi gibt es eine Szene, in der ein Polizist mit zwei Fingern an der Halsschlagader eines Opfers überprüft, ob dieses noch lebt. In der Realität sei die Todesfeststellung „dann doch wesentlich komplexer“. Atemstillstand, Pulslosigkeit oder weite Pupillen seien unsichere Todeszeichen, die auch die Folge von Stromschlägen, Vergiftungen oder Unterkühlung sein könnten, diese Personen seien dann oft nur scheintot. Mediziner verließen sich allein auf sichere Todeszeichen wie Leichenflecken, Leichenstarre oder Fäulnis.