Erst jahrelange Ermittlungen, dann langes Warten auf den Prozess: Bei Wirtschaftsverfahren stößt die Justiz immer mehr an ihre Grenzen, wie aktuelle Beispiele aus Baden-Württemberg zeigen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der Insolvenzverwalter Volker Grub hatte eine gute und eine schlechte Nachricht für die Aktionäre der einstigen Hess AG. Im Verfahren um den Villinger Leuchtenhersteller, der im Jahr 2013 kurz nach dem von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) begleiteten Börsengang wegen mutmaßlich geschönter Bilanzen in schwere Turbulenzen geraten war, fließe nun erstmals Geld: sieben Prozent der anerkannten Forderungen würden demnächst überwiesen. Am Ende, schrieb Grub, rechne er mit einer Quote von 15 Prozent, bei Forderungen von mehr als 100 Millionen Euro. Doch ein Abschluss sei derzeit nicht absehbar, wegen der sich hinziehenden Verfahren in der Justiz.

 

„Nur sehr schleppend“ kämen die Schadenersatzprozesse gegen zwei frühere Hess-Vorstände voran, so Grub. Nach vier Jahren habe das Landgericht Konstanz die beiden zwar unlängst, wie von ihm beantragt, zur Zahlung von zwei Millionen Euro nebst Zinsen verurteilt. Doch sie hätten bereits Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe eingelegt. „Dort wird mit einer weiteren Prozessdauer von mehreren Jahren gerechnet, nachdem das Gericht Beschwerde darüber führt, völlig überlastet zu sein“, schrieb der Insolvenzverwalter.

Anklage liegt seit zwei Jahren vor

Kaum schneller gehe es im Strafverfahren gegen mehrere einstige Hess-Verantwortliche. Bereits vor zwei Jahren habe die Staatsanwaltschaft Mannheim zwar Anklage wegen Kapitalanlagebetrug, Marktmanipulation und Kreditbetrug erhoben, doch bis heute sei „noch nicht einmal über die Zulassung der Anklage entschieden, geschweige denn ein Termin für eine Hauptverhandlung bestimmt“. Die Vorsitzende Richterin der Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht Mannheim verweise ebenfalls auf Überlastung. Selbst das Gesuch Grubs, Akteneinsicht zu erhalten, blieb bisher unbearbeitet. Begründung: dazu sei eine „längerwierige Einarbeitung“ in die Unterlagen nötig, zu der sie wegen vorrangiger Verfahren „auf nicht absehbare Zeit“ nicht komme.

Für den demnächst 80-jährigen Grub, der seit mehr als fünf Jahrzehnten im Geschäft ist, gleicht das „einem Offenbarungseid der Justiz“. Bereits vor einem Jahr wandte er sich deswegen an Justizminister Guido Wolf (CDU). Sollte das Verfahren so weiter betrieben werden, schrieb er ihm, drohe es in einigen Jahren wegen Verjährung eingestellt zu werden. Dies fände er „unerträglich – die Kleinen werden gehängt, die Großen lässt man laufen“. Dieser Vorgang und ein anderer, bei dem aus seiner Sicht gebotene Ermittlungen verweigert würden, erschütterten sein Vertrauen in die Justiz: Als „langjähriges Organ der Rechtspflege“ fühle er sich dadurch auch „gedemütigt“.

„Inakzeptable Zustände in der Justiz“

Noch deutlicher wurde einer der geschädigten Hess-Kleinaktionäre, der sich nach Grubs Schreiben unlängst ebenfalls beim Justizminister beschwerte. Die Hängepartien im Zivil- und Strafverfahren offenbarten „vollkommen inakzeptable Zustände in der Justiz“, schrieb der Berater Matthias Gaebler. Während geringfügige Beträge wie Strafzettel beim Bürger zügig eingetrieben würden, hätten Millionenbetrüger wenig zu befürchten. Die unvertretbar langen Verfahren führten nicht nur dazu, dass sich Zeugen nicht mehr so genau erinnerten und eine echte Aufklärung immer schwerer werde; oft erhielten die Angeklagten dafür auch noch einen Rabatt bei der Strafe. Vor einer solchen Justiz müsse man sich nicht fürchten, mahnte Gaebler, einen „Abschreckungseffekt“ habe sie nicht mehr.

Bei Guido Wolf rennen der Insolvenzverwalter und der Aktionärsberater damit offene Türen ein. Auch aus Sicht des Ministeriums, sagt sein Sprecher, bestehe „insbesondere in Wirtschaftsstrafsachen durchaus die Problematik, dass einzelne Verfahren dort sehr lange dauern“. Die Entwicklung sei bundesweit zu beobachten und habe „vielschichtige Ursachen“: Große Wirtschaftsverfahren würden immer aufwändiger, etwa weil die Menge der auszuwertenden Daten stark zunehme. Bei internationalen Verflechtungen koste die Rechtshilfe von ausländischen Staaten viel Zeit, zuweilen mehrere Monate für ein Gesuch. Haftsachen hätten bei den Gerichten zudem Vorrang, aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. „Auch die personelle Ausstattung der Justizbehörden“, räumt Wolfs Sprecher ein, habe natürlich Folgen für die Verfahrensdauer.

EnBW-Verfahren vor dem Abschluss?

An Beispielen aus Baden-Württemberg mangelt es nicht, manche Verfahren dauern sogar noch länger als im Fall Hess. Fünf Jahre etwa ermittelt die Staatsanwaltschaft Mannheim bereits in der Russland-Affäre beim Energiekonzern EnBW. Sieben teils ehemalige Manager verdächtigt sie im Zusammenhang mit Geschäften mit dem Moskauer Lobbyisten Andrey Bykov der Untreue und der Steuerhinterziehung. Verzögert wurden die Ermittlungen unter anderem durch Rechtshilfe aus der Schweiz, wo sich Bykov lange gegen die Herausgabe von Beweismitteln wehrte. Der ursprünglich für den Frühsommer avisierte Abschluss sei nun „innerhalb der nächsten drei Monate“ zu erwarten, sagt ein Justizsprecher. So lange hängen die Beschuldigten – darunter der amtierende EnBW-Technikvorstand Hans-Josef Zimmer – weiter in der Luft; so lange ruhen auch die Zivilverfahren, in denen der Energiekonzern von ihm und einem Ex-Kollegen 80 bis 90 Millionen Euro fordern.

Im Fall der Waffenfirma Heckler & Koch dauerte es fünfeinhalb Jahre bis zur Anklage wegen verbotener Gewehrlieferungen nach Mexiko. Wenige Monate zuvor, im Frühjahr 2015, gab es sogar eine Demonstration vor der Stuttgarter Staatsanwaltschaft: Der Freiburger Rüstungsgegner Jürgen Grässlin, der bereits 2010 Anzeige erstattet hatte, protestierte mit Anhängern gegen die Verschleppung. Die Behörde wies diesen Vorwurf zurück, verwies auf schwierige Ermittlungen im Ausland und eine vorübergehende Abordnung des zuständigen Staatsanwaltes. Inzwischen hat das Landgericht Stuttgart die Anklage zugelassen, doch ein Prozess ist noch nicht in Sicht. „In diesem Jahr sicher nicht mehr“, lautet die einzige Prognose. Erst im Vorjahr hatte die Gerichtschefin Cornelia Horz den enormen Aufwand für große Wirtschaftsfälle illustriert: In fünf Fällen habe man 100 bis 200 Stehordner, in vier sogar 200 bis 300 zu bewältigen. Die Richter täten ihr Mögliches, doch überlange Verfahren ließen sich nicht vermeiden.

Der Reiz einer schnellen Einigung

Die Überforderung erhöht bei den Gerichten die Neigung zum Deal, also einer Verständigung mit den Angeklagten. In nur einem Verhandlungstag beendete das Amtsgericht Ravensburg so im Juli ein Verfahren gegen einen FDP-nahen oberschwäbischen Unternehmer, gegen den seit 2011 aufwändig ermittelt worden war. Die lange Dauer begründeten die Ravensburger Staatsanwälte unter anderem mit Auslandsbezügen und dem Tod eines Steuerfahnders. Bei Gericht lag die Anklage dann nochmals ein Jahr. Schließlich wurde ein Teil der mühsam zusammengetragenen Anklagepunkte eingestellt, für Steuerhinterziehung und Markenrechtsverstöße gab es eine Haftstrafe von einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung. Der Firmenchef akzeptierte das Urteil umgehend.

Nicht immer führen langwierige Ermittlungen auch zum Prozess. Rund sieben Jahre prüfte die Staatsanwaltschaft Stuttgart bei der einstigen Waiblinger Firmengruppe Weis Industries und deren Kunden Daimler den Verdacht auf Korruption und Betrug; für Aufträge soll es auf Umwegen Belohnungen gegeben haben. Auslöser war eine Strafanzeige des Auto-Konzerns, der zugleich eine Auftragssperre verhängte. In diesem Sommer wurde das Verfahren ohne großes Aufsehen eingestellt; ein Tatnachweis habe „nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit geführt werden können“, sagt ein Behördensprecher. Schon Jahre zuvor hatten die Anwälte des Firmenchefs auf einen raschen Abschluss gedrungen – und auch die Ermittlungen für die Insolvenz verantwortlich gemacht.

Mehr Personal für die Justiz

So unbefriedigend auch der Justizminister zeitlich ausufernde Verfahren findet – viel tun kann er nicht. Kurzfristig könne das Ministerium „insbesondere die Personalausstattung der Justiz verbessern“, sagt der Sprecher. Da habe man mit 67 Neustellen im Haushalt 2017 einen „ersten wichtigen Schritt“ getan. Guido Wolf werde sich weiter für mehr Personal einsetzen und sei zuversichtlich mit Blick auf den Doppeletat 2018/19.

In diesem Bemühen, hatte der Insolvenzverwalter Grub an Wolf geschrieben, könne er ihn „nur unterstützen“; dem diene auch sein Schreiben. Umso mehr wunderte er sich, dass er keinerlei Reaktion erhielt. Der Brief sei weder auffindbar noch erinnerlich, heißt es im Ministerium, man habe sich jetzt mit der Kanzlei in Verbindung gesetzt. Auch der Aktionärsvertreter Gaebler soll eine Antwort erhalten: Die für den Fall Hess zuständigen Gerichte seien um eine Stellungnahme gebeten worden, schrieb ihm ein Ministerialer. Man werde sich dann wieder bei ihm melden.