In Indien und Pakistan sind Millionen auf der Flucht vor den verheerenden Überschwemmungen in Kaschmir. Die Wut auf Militär und Politiker wächst, hat die StZ-Korrespondentin Christine Möllhoff beobachtet.

Neu-Delhi - Leichen schwimmen wie Treibgut in den Straßen, in denen eine grauschmutzige Brühe steht. Aber den Helfern bleibt kaum Zeit, die Toten zu bergen. Sie müssen zuerst den Lebenden helfen. Eine junge Frau watet durch die Fluten, das Wasser reicht ihr bis zur Brust, auf dem Kopf trägt sie in einem Korb ihren kleinen Sohn. Auf den Dächern warten Gestrandete auf Hilfe. Andere sind seit Tagen in ihren Häusern eingeschlossen. Am Himmel fliegen Militärhubschrauber im Rettungseinsatz. Erst aus der Luft wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Wasser so weit das Auge reicht. Nicht nur Hunderte von Dörfern sind in den Fluten versunken, auch Srinagar, die 1,3 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt der indischen Region Kaschmir, steht an einigen Stellen bis zu drei Meter unter Wasser.

 

Nicht minder dramatisch ist die Lage auf der anderen Seite der Grenze in Pakistan. Die zwischen Indien und Pakistan geteilte Himalaya-Region Kaschmir erlebt die schlimmste Flutkatastrophe seit über einem Jahrhundert.

Von einem „südasiatischen Katrina“ sprechen Medien bereits, in Anspielung auf den Hurrikan, der 2005 die Südküste der Vereinigten Staaten verwüstete. Sintflutartige Monsunregenfälle haben die Region Kaschmir in den vergangenen Wochen in ein Katastrophengebiet verwandelt. Zwei bis drei Millionen Einwohner mussten ihre Häuser verlassen, Hunderte starben bisher in den Fluten.

Die Retter dringen nicht zu den Abgeschnittenen durch

Auf beiden Seiten der Grenze sind tausende von Soldaten und Helfern im Dauereinsatz. Noch immer sollen 200 000 bis 600 000 Menschen abgeschnitten sein. Verzweifelt versuchen die Retter, zu ihnen durchzudringen. Das Telefonnetz ist zusammengebrochen. Hubschrauber werfen Notpakete ab und bergen Gestrandete. Doch sie kommen kaum hinterher. „Wir haben drei Tage auf dem Dach gewartet“, erzählt eine 60-jährige Pakistanerin. Im indischen Srinagar starben 14 Kinder in einem Hospital. In Pakistan sprengten Militärexperten drei Uferdämme des Flusses Chenab, um die Wassermassen umzulenken und drei größere Städte, darunter auch die historische Stadt Multan, vor den Fluten zu retten. Die „Stadt der Heiligen“ mit ihren Moscheen und Basaren, die zehn Millionen Einwohner zählt, soll jetzt außer Gefahr sein. In aller Eile wurden Moscheen und Tempel zu Notcamps umfunktioniert. Doch sie können die Massen kaum fassen, Tausende drängen sich auf engstem Raum. Helfer befürchten jetzt den Ausbruch von Seuchen. Viele Flüchtlinge litten an Durchfall, Infektionen, Ausschlägen, berichtete die Zeitung „Hindustan Times“. Sauberes Trinkwasser sei knapp. Am Flughafen von Srinagar warten 15 000 Menschen darauf, ausgeflogen zu werden. Tausende von Tierkadavern müssen entsorgt werden.

Die Hilfe kommt nur schleppend in Gang

Inzwischen nimmt in Indien der Zorn über die Politik und die schleppenden Hilfsarbeiten zu. „Die Menschen sind sehr wütend, frustriert und erschöpft“, zitieren Medien den Polizeioffizier R. K. Khan. In Srinagar beschuldigten Einwohner das Militär, gezielt Touristen und VIPs aus dem Krisengebiet in Sicherheit geflogen zu haben. „Helikopter kamen, wir haben gewunken“, sagt eine Frau. „Niemand aus unserem Viertel wurde per Helikopter gerettet.“

Die indische Luftwaffe musste ihre Rettungseinsätze zurückfahren, nachdem zornige Anwohner die Hubschrauber mit Steinen beworfen hatten. Auch Helfer warfen der Landesregierung vor, die Rettungsaktionen seien miserabel koordiniert. „Die Menschen brauchen dringend Nahrung, Medizin, Kleidung und ein Dach über dem Kopf”, sagte Valay Singh von „Save the Children“. In Pakistan mischen auch islamistische Gruppen bei den Rettungsarbeiten mit. Einige Terrorgruppen unterhalten Hilfsorganisationen. So eröffnete die verbotene Jamaat-ud-Dawa über ihre Wohlfahrtsverband Notcamps und versorgt Familien dort mit Nahrung. Die Gruppen haben oft ein sehr effizientes Netzwerk und nutzen dies bei Katastrophen, um Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen.

Reicht die Regierung der rebellischen Region die Hand?

Das ganze Ausmaß der Zerstörung wird wohl erst sichtbar, wenn die Wassermassen langsam zurückgehen. Doch eins steht fest: Es wird Jahre dauern, bis die Region wieder aufgebaut ist. Kommentatoren appellierten an die neue Regierung von Premierminister Narendra Modi, die Flut als Chance zu begreifen, den Kaschmiris die Hand zu reichen. Indien müsse den Flutopfern nun die gleiche Solidarität zuteil werden lassen wie den Opfern des Tsunami 2004, des Erdbebens in Gujarat von 2001 oder den Opfern der Fluten in Uttarakkand 2012.

Das mehrheitlich muslimische Kaschmir gilt seit Jahrzehnten als Brennpunkt. Delhi hat dort mehrere zehntausend Soldaten stationiert, um Aufstände zu verhindern. Viele Kaschmiris empfinden Indien als brutale Besatzungsmacht. Zudem ist Kaschmir zwischen Indien und Pakistan umstritten. Die Nachbarn haben vier Kriege geführt, drei um Kaschmir.