Von Polens Literatur wussten deutsche Leser und Verlage nach dem Zweiten Weltkrieg wenig. Der nun im Alter von 94 Jahren gestorbene Karl Dedecius hat das beharrlich geändert.

Stuttgart - Als man das Lesen noch für eine Tugend hielt, so lange ist das gar nicht her, galten deutsche Leser wegen der vielen Übersetzungen aus anderen Sprachen auf dem hiesigen Buchmarkt als besonders weltoffen. Aber bei den Übersetzungen gab es ein merkliches Ungleichgewicht. Die Literatur der östlichen Nachbarn war weit schwächer vertreten als die der westlichen. Karl Dedecius fiel das ganz besonders auf, denn in russischer Kriegsgefangenschaft hatte der 1921 im polnischen Łódź geborene Sohn einer deutschen Familie Literatur als Kraftquell kennengelernt. Schwer erkrankt, hatte er sich Russisch beigebracht und vom Lagerlazarett aus eine Welt erschlossen.

 

Gedichte als Geschichtslektionen

Die besondere Zuneigung des aus Kriegsgefangenschaft erst in die DDR, dann in die BRD Gekommenen galt bald der polnischen Literatur. Die übersetzte er zunächst als Amateur am Feierabend. Tagsüber arbeitete er als Angestellter einer Versicherung. Es ging ihm, daran hat Dedecius nie einen Zweifel gelassen, um Sprachen und ihre Schönheiten, aber auch um Politik. Ohne Kennen und Verstehen der anderen, ihrer Geschichte und Geistesgeschichte, schien ihm Aussöhnung unmöglich. Gedichte empfahl er dringlich nicht als Sezierübung für Deutschstunden, sondern als Pflichtlektüre im Geschichtsunterricht.

Karl Dedecius, der am 26. Februar in Frankfurt am Main im Alter von 94 Jahren gestorben ist, wurde der wichtigste Vermittler polnischer Literatur in Deutschland. Die deutsche Polonistik, hat er einmal am Beispiel der Erforschung des Werks von Adam Mickiewicz (1798-1855) beklagt, habe Großes geleistet, sei aber fast eine Geheimwissenschaft geblieben. Also wollte er auch den Deutschen außerhalb kleiner Gelehrtenzirkel verständlich machen, warum Mickiewicz von Kennern „der Goethe Polens“ genannt wird.

Weg mit den dunklen Flecken

So hat der Autodidakt übersetzt, entdeckt, erklärt, gefördert und auch viele persönliche Bande geknüpft. Werke Stanisław Jerzy Lec, Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Wisława Szymborska, Józef Wittlin, Sławomir Mrożek und Tadeusz Różewicz hat er eingedeutscht. Dass diese Namen noch immer auch manchem Belesenen hierzulande wenig sagen, darf man nicht als Fehlschlag werten. Vor Karl Dedecius gab es hierzulande viel schlimmere Defizite in der Wahrnehmung Polens, große dunkle Flecken des Sichtfelds, in denen die Reste der Nazipropaganda gerne gekeimt hätten.

1980 nahm das von Dedecius gegründete Deutsche Polen-Institut in Darmstadt seine Arbeit auf. Dessen Leitung hatte der unter anderem mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt sowie Polens höchster Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers, Geehrte bis 1997 inne.

Ein Projekt für die Zukunft

Nichts wäre aber weniger in seinem Sinne, als seine Großwerke, die fünfzigbändige „Polnische Bibliothek“ bei Suhrkamp oder das siebenbändige „Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts“, als Belege für Geschlossenheit und Vollbrachtes zu nehmen. Die Arbeit von Karl Dedecius, die Förderung des Verständnisses muss weitergehen, sie ist ein Projekt weit in die Zukunft hinein. Erst recht in Zeiten, in denen in Deutschland wie in Polen Nationalisten gefährliche Stimmungen schüren.