Gangsterslang, Public-School-Geplauder, Argot – das Deutsche hält in dieser Richtung wenig bereit. Woher rührt die Lücke, und was wäre angetan, sie zu schließen? Ein Bericht aus der Übersetzerwerkstatt von Joachim Kalka.

Stuttgart - Für den Übersetzer, der originelle mündliche Rede oder auch die bewusstlose Versunkenheit von Alltagssprache ins Deutsche zu bringen hat, ergibt sich die interessante Diagnose, dass viele Zonen charakteristischer Redeweise im Deutschen relativ schwach besetzt sind. Es hängt beispielsweise mit dieser Lücke im Vokabular zusammen, dass in alten Kriminalfilmen eine hilflose Simulation des Harten, Zähen stattfindet, die von hoher Komik sein kann („Na warte, Bürschchen“). Vom Deutschen her ist schwer zu begreifen, dass der Slang keine defekte Sprachform ist, sondern im Gegenteil eine wuchernd-elaborierte, subtile Sprachstrategie, ein Spiel zwischen Stereotypie und Ironie. Weshalb fehlt im Deutschen dieser Slang als autonomes System?

 

Dafür kann man spekulativ mannigfache Gründe anführen, von der phobischen Verachtung des deutschen Bildungsbürgertums für die deklassierte Bevölkerung (die sich noch in Marx’ „Lumpenproletariat“ findet) bis hin zur Fetischisierung des „Anständigen“ durch die deutsche Arbeiterschaft, von der späten Entwicklung des Gesellschaftsromans bis zum Fehlen der repräsentativen Metropolenkultur. Das Französische hat ebenso mühelos ein geläufiges Argot-Wort für die Leiche bereit wie das Englische: un macchabée; a stiff. Das Deutsche hat neben „Leiche“ nur den noch ernsteren „Leichnam“ und den anatomischen oder pathetischen „Kadaver“.

Als Notbehelf muss Berlinerisch herhalten

Multipliziert man diese Lücke mit, schätzungsweise, zweihundert, dann weiß man, was es heißt, einen Kriminalroman der amerikanischen hard-boiled school (oder gar aus dem französischen Milieu à la San-Antonio) ins Deutsche zu übersetzen. Es ist typisch, dass hier neben dem künstlich wirkenden Rotwelsch fast immer als letzter Notbehelf eine Art artifizielles Berlinerisch herhalten muss.

Gelegentlich ist so etwas Zitat authentischer Großstadt wie in dem Aufschrei der jungen Nutte, die in Fritz Langs „M“ in die von der nächtlichen Razzia bedrohte Lokalität Krokodil stürmt: „De Bullen!“ Ein solcher Ruf markiert den Punkt der größten Annäherung des Deutschen an den Slang, aber es kommt heutzutage doch nur noch eine kleine Handvoll einschlägiger Vokabeln dieser Couleur zusammen. Bulle . . . Ganove . . . Kittchen . . . Von diesen dreien beispielsweise wirkt heute nur „Bulle“ tatsächlich realitätsbezogen (was wohl immerhin ein Erfolg der vielgeschmähten Achtundsechziger wäre), das „na, du Ganove“ ist eher zu einer etwas altfränkischen Begrüßungsformel geworden, und das „Kittchen“ vollends war schon lächerlich preziös, als der Jean-Gabin-Film „Archimède le Clochard“ 1959 den kessen deutschen Titel „Im Kittchen ist kein Zimmer frei“ erhielt.

Alltagssprache in der Literatur

Die Alltagssprache ist etwas durchaus Geheimnisvolles. Wie wurde und wird sie von der Literatur aufgenommen? Man könnte hier eine Entwicklung skizzieren, die tatsächlich ein Fortschritt ist. Der Romanist Erich Auerbach hat in seiner im Istanbuler Exil entstandenen Studie „Mimesis – Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ verfolgt, welchen Teil der Realität die Literatur zu verschiedenen Zeiten für darstellungswürdig gehalten hat. Das ist eine gesellschaftliche Frage (wie sie noch in Gerhart Hauptmanns „Ratten“ verhandelt wird: Kann eine Putzfrau das Subjekt einer Tragödie sein?). Implizit betrifft es aber auch das Aufkommen einer Optik, welche das Randständige, Unscheinbare, Leere, „Uninteressante“ nach und nach zum Gegenstand macht. Parallel dazu ließe sich fragen, wie (und ab wann) in der Literatur Alltagssprache zu Gehör gebracht wird, wie man hier die gewöhnliche – einerseits würzig-originelle, andererseits aber auch leere und phrasenhafte – Sprache darstellt. Ersteres, das Originelle, wandert ab dem späteren achtzehnten Jahrhundert zusehends in die deutsche Literatur ein.

Das Folgende muss man mit leicht schwäbischer Färbung hören: „Aber, sag mir doch, was wird bei dem ganzen Kommerz auch herauskommen? – Nehmen kann er das Mädel nicht – Vom Nehmen ist gar die Rede nicht, und zu einer daß Gott erbarm? – Guten Morgen! Gelt, wenn so ein Musje von sich da und dort, und dort und hier schon herumbeholfen hat, wenn er, der Henker weiß was als? gelöst hat, schmeckts meinem guten Schlucker freilich, einmal auf süß Wasser zu graben. Gib du acht! Gib du acht! (. . .) er wird sie, dir auf der Nase, beschwatzen, dem Mädel eins hinsetzen und führt sich ab, und das Mädel ist verschimpfiert auf ihr Leben lang, bleibt sitzen, oder hats Handwerk verschmeckt, treibts fort. (Die Faust vor der Stirn) Jesus Christus!“ Das ist der Musikus Miller in Schillers „Kabale und Liebe“. Hier findet sich originelles Sprachgewürz. Aber es ist reizvoll zu verfolgen, wie nach und nach die Literatur sich liebevoll gerade auch den marginalen, leeren Sprachgesten zuwendet, in welchen sich ein so großer Teil unserer Rede vollzieht.

Was der Schwabe besonders gut kann

Der Schwabe neigt, glaube ich, in besonderem Maße zur sogenannten phatischen Kommunikation, indem er etwa dem Nachbarn auf der Straße wohlwollend zuruft: „So, wara mer beim Eikaufa?“, um ihm solcherart etwas mitzuteilen, was der Angesprochene bereits weiß, im Tonfall aber das Eigentliche auszudrücken: die billigende Zuwendung. „Phatisch“ nennt die Ethnologie all die Äußerungen, deren Bedeutung lediglich im Akt des Redens selbst (der „Asprach“) liegt: „So, semmer au do.“ All die kopfschüttelnden oder billigenden Bemerkungen über das Wetter gehören hierher.

Diese Form der Rede wird im neunzehnten Jahrhundert langsam von der Literatur erobert: Ein präziser Sinn für solches Sprechen zeichnet beispielsweise den Berliner Adolf Glassbrenner aus, der ein gutes Ohr für die absurde Bedeutsamkeit hatte, mit der Leute sich irrelevante Informationen mitteilen – wenn etwa ein Berliner Eckensteher (ein Typus, den Glassbrenner literarisch als Erster fixiert hat) 1832 nach einem Blick in die Zeitung wichtig bemerkt: „Da haben wirt – der König von Spanien is dot!“

Der Erste, der in der Lyrik den Ton der leeren Beiläufigkeit fixiert hat, dürfte übrigens Fontane gewesen sein. In dem Gedicht „Lebenswege“ aus dem Jahr 1888 beispielsweise: „Und mitunter auf stillem Tiergartenpfade, / Bei ‚Kön’gin Luise‘ trifft man sich grade. // ‚Nun, lieber F., noch immer bei Wege?‘ / ‚Gott sei Dank, Exzellenz... Trotz Nackenschläge . . .‘ / ‚Kenn’ ich, kenn’ ich. Das Leben ist flau . . . / Grüßen Sie Ihre liebe Frau.‘“

Das Hinhorchen auf das Unscheinbare geht dann bis in die Logik ganz winziger Wendungen, wie sie etwa in Erwin Panofskys Überlegungen zum Hamburgischen „ja nun auch“ vorgeführt wird („Martha Y. hat sich ja nun auch verlobt“), in dem schönen Gedenk-Aufsatz „Goldschmidts Humor.“

Karl Kraus und der Reiz der Misstöne

Karl Kraus, der magische Meister der Phrasenjagd, der mit einer seltsam „verhassten“ Zärtlichkeit Hunderte von Leerformeln immer wieder vorführt – „Sie haben faktisch recht“ – hat die Dämonie der diplomatischen und journalistischen Floskeln aufgezeichnet, welche beispielsweise den Ersten Weltkrieg weniger begleitet, als dass sie ihn verursacht haben. Das ist Kraus‘ These: die Sprache ist von entscheidender moralischer Wirkmächtigkeit. Wir müssen lernen, uns selbst sprechen zu hören, „und alles andere wird sich finden“.

In diesem Zusammenhang ist das Ausmaß, in dem Kraus vom Abhub der sprachlichen Stereotypie fasziniert ist, von großer Bedeutung: der Reiz der Misstöne. Zuweilen haben die toten Formulierungen mit ihrer auftrumpfenden Scheinlebendigkeit einen gewissen Zombie-Charme, dem man sich nicht völlig entziehen kann. Wiglaf Drostes Sammlung „In 80 Phrasen um die Welt“ (1992, erweitert 2003) führt Floskeln vor wie „Schmeiß den Riemen auf die Orgel“ oder „Lass mal die Luft außem Glas, Fritz“, denen man einen geheimnisvollen ranzigen Reiz attestieren muss. Es sind ebenso wie „aber hallo“ oder „und tschüss“ typische Äußerungen unserer sogenannten Spaßgesellschaft, doch ihre triste Selbstüberschätzung hat etwas Entwaffnendes.

Was P. G. Wodehouse mit Phrasen machte

Als Revers zu Karl Kraus’ schöpferischem Hass auf die Phrase kann man die innige Zuneigung des großen englischen Erzählers P. G. Wodehouse (1881–1975) zu deren bewusstlosem Charme betrachten. Ein Beispiel: Es gibt im Englischen zwei geläufige Redewendungen für „nichts unversucht lassen“ – „ to leave no stone unturned“ und „to explore all avenues“. Als nun einmal eine Figur beteuert: „I left no stone unturned“, fragt der Gesprächspartner sofort streng: „And avenues?“ „Avenues, too. I explored them all.“

Die Sammelleidenschaft, die in solchen Gesprächen gern zum höflichen Einwurf von Synonymen in die Rede des anderen führt, steht dem reichen Reservoir an Klischees geradezu verliebt gegenüber (und trifft sich so in der vierten Dimension der Sprachkritik wieder mit Karl Kraus’ Sinn für die Komik der Phrase). Ein großer Teil dieses sprachlichen Stereotyp-Materials bei Wodehouse ist Slang, der gemütliche, bewusst ein wenig alberne Slang der englischen Public School. Eine 1940 erschienene Sammlung von Wodehouse’ Geschichten über den Drones Club (den programmatisch benannten Drohnen-Club) reiht in ihrem Titel drei leicht debile Bezeichnungen für vertraute alte Freunde aneinander: „Eggs, Beans and Crumpets“. Das lässt sich nicht übersetzen; eine Anrede wie „old egg“ hat einen spezifischen gesellschaftlichen Nachhall. Deutsche Ausdrücke wie Spezi, Sportsfreund, alter Schwede, die einem hier einfallen mögen, streben alle nach verschiedenen, aber gleichermaßen divergenten Richtungen weg vom Stimmungsregister des Gemeinten. Am ehesten träfe noch das farblose „Alter Junge“ (selbst eine halb eingebürgerte Übersetzung von old boy/old man), aber wie hilflos bleibt es! Denn es fehlt für diese Sprachgeste der soziale Hintergrund.

Als in „The Inimitable Jeeves“ (1924) Bertie Wooster, im Zusammenhang einer komplizierten Intrige als angeblicher Schriftsteller beim Erbonkel des alten Freundes Bingo eingeschleust, auf die Mitteilung des Onkels, seine brillante Köchin habe sich nach längerem Zögern nun doch zum Bleiben entschlossen, beifällig „Good egg!“ sagt, erwidert der alte Herr etwas konfus: „Good egg, indeed – though the expression is not familiar to me. I do not remember having come across it in your books . . .“Dass man all unsere bewusstlos gebrauchten Wendungen – von bescheidenen und doch vertrackten Minimalismen wie „noch und noch“ bis zu den einst ungeheuren und nun quasi unsichtbar und unhörbar gewordenen Metaphern wie „himmelschreiend“ – sich lauschend wieder entschlüsselte, wäre wichtig; es setzte dies ein Interesse an der Sprache selbst voraus.

James Thurber, die Milch und die Flasche

Der amerikanische Humorist James Thurber ist einer der wenigen Menschen gewesen, die mit der Sprache gespielt haben, wie andere Leute Skat oder Golf spielen – begeistert, zwanghaft. Er erzählt eine Geschichte aus seiner frühen Jugend im Ton einer komischen Anekdote, aber es steckt etwas leicht Unheimliches darin.

Seine Lehrerin hat ein sehr eingeschränktes Verhältnis zu jeglicher Dichtung – sie ist bei allen poetischen Texten nur am Nachweis bestimmter rhetorischer Figuren interessiert und besonders emsig auf der Suche nach bestimmten Formen des Metaphorischen. So hat sie die Kinder auf eine metonymische Technik hingewiesen, die im Englischen als „container for the thing contained“ bezeichnet wird: der Inhalt ausgedrückt durch das Gefäß.

Miss Groby zitiert auch das klassische Beispiel. Zu Beginn seiner Rede in Julius Caesar fordert Mark Anton die Bürger Roms auf: „lend me your ears“ – er will natürlich nicht die Ohren, sondern ihren „Inhalt“, die lauschende Aufmerksamkeit. Der kleine Thurber beschäftigt sich mit der Sache und kommt auf einen Gedanken, der naheliegend scheint: Es muss doch irgendein Beispiel für die Umkehrung dieser metaphorischen Technik geben, ein Beispiel für „the thing contained for the container“.

Das Übersetzen als Schule der Sprachkritik

Nach Tagen zunehmend verzweifelter Überlegungen, nach Nächten schlaflosen Suchens findet er seine Lösung und meldet sie stolz am anderen Morgen in der Schule. Sagt eine Frau beim Frühstück zu ihrem Mann: „Hau bloß ab, oder ich verpass dir eins mit der Milch“, dann haben wir das Beispiel für die Bezeichnung des Gefäßes durch den Inhalt (der Flasche durch die Flüssigkeit). Die Klasse lacht schallend, die Lehrerin sagt kühl: „That was not really funny, James.“ Doch, komisch schon. Aber so war es nicht gemeint.

Magie der Sprache, Zauber der Phrase . . . Karl Kraus beschreibt, dass er oft beim Schreiben Stimmen hört. „Als ich meine Betrachtung ‚Rhythmus eines österreichischen Sommers‘ schrieb, hörte ich hinter mir ganz deutlich eine Frauenstimme, die immer wieder sagte: ‚Roserl ist zwar nicht offiziell, aber offizies verlobt.‘ Es ist eigentümlich, aber gerade das hat mich bei der Arbeit gehalten . . .“ (Fackel 309/29).

Das ist das Lauschen auf die verführerischen (und unübersetzbaren) Reize der bewusstlosen Sprache. Die Andeutungen, die ich hier zu machen versucht habe, gehören in das uferlos große Thema, das man überschreiben könnte: Das Übersetzen als Schule der Sprachkritik.

Info: der Stuttgarter Cottapreis für Autoren und Übersetzer

Der Übersetzer, Essayist und Herausgeber Joachim Kalka wird am 9. Juli für sein übersetzerisches Werk neben der Schriftstellerin Ulrike Edschmid mit dem Johann-Friedrich-von-Cotta-Preis der Landeshauptstadt Stuttgart ausgezeichnet. Der Cottapreis ehrt Übersetzer und Schriftsteller und wird alle drei Jahre verliehen. Er ist mit insgesamt 20 000 Euro dotiert. Kalka lebt seit gut einem Jahr nicht mehr in Stuttgart, sondern in Leipzig, ist aber weiterhin gern gesehener Gast in den literarischen Institutionen der Stadt. So auch am 11. Juli im Literaturhaus Stuttgart, wo er über Literatur, Kritik und Übersetzung plaudern und alle drei mit selbstverfertigten Beispielen illustrieren wird, sprich, mit Lesungen aus seinen Essays und Übersetzungen, die im letzten Jahrzehnt erschienen sind.