Noch den Rest dieser Amtszeit, dann ist Schluss: Der Ulmer Ivo Gönner tritt ab und will wieder als Anwalt arbeiten. Er wirkt wie befreit.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm - Nun ist also doch die Zeit angebrochen, da man sich daran gewöhnen muss, über Ivo Gönner im Präteritum zu schreiben. Kaum zu fassen eigentlich, nach 24 Jahren, die dieser Mann die Stadt Ulm repräsentierte, ihr Gesicht und vor allem Stimme gab. „Es war für mich eine große Aufgabe“ hat er am Donnerstag in seinem Rathaus zum nahen Abschied gesagt. Bei der kommenden OB-Wahl am 29. November will er nicht mehr antreten, obwohl er’s mit 63 Jahren noch mal könnte. „Ich bin innerlich in vollem Einklang mit dieser Entscheidung“, versicherte Gönner.

 

Große Aufgabe, voller Einklang – mit solchen Vokabeln allein kann man diesen Mann unmöglich ins postpolitische Leben entlassen, in dem er sich, seiner beruflichen Herkunft entsprechend, als frei niedergelassener Strafverteidiger sieht, allerdings als einer, der „nie gegen die Stadt Ulm“ agieren würde. Mit Ivo Gönner, das gibt seinem Schritt wirklich Traurigkeit, geht nicht irgend ein verdienter Kommunalpolitiker, sondern der Typus eines Dieners vor dem Bürger, der einer Zeit angehört, in der Werte etwas galten.

Die Schwörformel: Nicht nur daher gesagt

Zu pathetisch? Nicht mehr als die Schwörformel „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein“, die Ivo Gönner demnächst zum letzten Mal vom Balkon des Ulmer Schwörhauses den Bürgern zurufen wird. Man sollte einmal nachsehen; dort, wo Gönner immer stand, müsste der Steinboden deutliche Abdrücke seiner Sohlen zeigen, so oft, wie der Mann die Übung schon absolviert hat.

Der Jesuitenschüler aus St. Blasien hat den Schwur nicht nur aufgesagt, er hat ihn geglaubt und, noch wichtiger, gelebt. Der Christ in ihm, über den er sich übrigens ebenso wenig öffentlich ausgelassen hat wie über den gut getarnten Sozialdemokraten, hat ihn ein Leben ohne Skandale und Affären verbringen lassen. Das Ende seiner politischen Ambitionen begründete der Rathauschef am Donnerstag auch mit intensiven Gesprächen, die er zusammen mit Frau und Kindern geführt habe. Die Familie Gönner bewohnt ein unauffälliges Einfamilienhaus am Stadtrand. Keine Nobelkarosse, keine Brioni-Anzüge, keine goldenen Uhren, niemals. Dafür steht er jederzeit für Wochenendauftritte bei Stadtteilfesten bereit, für Spendenübergaben, Verabschiedungen oder Jubilarbegängnissen. Seine launigen Reden skizziert er – mit Ausnahme der Schwörrede, die nicht launig ist – niemals auf Papier, sondern benutzt stattdessen einen geheimen Knopf, der ihn beim Reden jederzeit vom passablen Hochdeutschen ins Ur-Schwäbische und zurück springen lässt. Keine Rede ohne ein paar Lacher, das ist sein Prinzip. Die Leute lieben das.

Er besitzt nicht mal ein anständiges Smartphone

Nicht mal ein anständiges Smartphone besitzt der Rathauschef. Und falls doch, dann hat er’s nie dabei. Aber Obacht, für diesmal steckt dahinter nicht Bescheidenheit, sondern Überzeugung. Für die wirksame Beteiligung an der Politik reiche es nicht, in irgend welchen Foren Posts abzusetzen, man müsse schon „den Hintern heben“, findet Gönner. Wenn er wissen wolle, wo seine Bürger der Schuh drückt, dann laufe er „ein paar Mal über den Münsterplatz“. Ein in sozialen Netzwerken aktiver OB wie der Tübinger Boris Palmer wäre Gönner wohl nie mehr geworden. Der 63-Jährige, das ist sicher Teil seiner Entscheidungsgründe, hatte niemals Lust, die Verwaltung 4.0 zu erschaffen, die ihre Politik nicht nur im Gemeinderat, sondern über Twitter, Facebook und WhatsApp erklärt. Es gehe künftig wohl nicht anders, sagt Gönner, aber: „Ob das eine Verbesserung ist, wage ich zu bezweifeln.“

Noch in manch anderer Hinsicht dürfte der Zeitenwandel Gönners Lust am Job schleichend erwürgt haben. Die Zwangsverpflichtung der Kommunen, Kita-Plätze zu schaffen, hat ihm zum Beispiel nie geschmeckt, so wenig wie jede andere kostenpflichtige Maßnahme, die der Bund ihm, dem gefühlten freien Reichsstädter und tatsächlichen langjährigen Städtetagspräsidenten, aufgezwungen hat.

Die langen Amtsjahre fordern Tribut

„Kinder werden doch heute von hinten bis vorne gepampert“, schimpfte Gönner schon mal in kleiner Runde, und sein Ton ließ ahnen, dass er den Großteil jener Eltern, die Teil der Empörungsgesellschaft sind, für komplett unfähig hielte, auch nur einen einzigen Tag in seiner Schwarzwald-Klosterschule der 1960er Jahre zu überleben.

Das Amt hat Ivo Gönner abgeschliffen. Wie könnte es auch anders sein. Aber zu seinem Arbeitsethos gehört es, nichts Unerledigtes zu hinterlassen. Der Neubau einer zweiten Straßenbahnlinie ist durchfinanziert, die Umgestaltung des Bahnhofsareals im Zuge des Schienenprojekts Stuttgart 21 ebenso. Für das innerstädtische Einkaufszentrum „Sedelhöfe“ ist ein neuer Investor gefunden, nachdem der ursprüngliche in die Knie ging. Gönner blickt auf „ein bestelltes Feld“, wie er sagt.

Ein Gefühl von Traurigkeit

So wichtig, wie er selber das sieht, dürfte das für die Ulmer gar nicht sein. Sie verbinden ihren Oberbürgermeister nicht so sehr mit den Stadtentwicklungsprojekten der letzten Jahrzehnte, sondern mit der Atmosphäre von Offenheit, Stolz und Liberalität, die Gönner geschaffen hat. Möge es helfen, sagen jetzt viele Beobachter, dass die zwei vorläufig aussichtsreichsten Kandidaten für die OB-Nachfolge, nämlich der CDU-Finanzbürgermeister Gunter Czisch und der SPD-Landtagsabgeordnete Martin Rivoir, zu Gönners Freunden zählen und gewissermaßen bei ihm in die Schule gegangen sind.

Zeit zu gehen also für das Alphatier dieser Stadt. Bitte, fleht Ivo Gönner, „es handelt sich um keine Beerdigung“. Ja, schon klar. Es fühlt sich aber ein bisschen so an.