Jeder vierte Katholik in Württemberg hat ernsthaft überlegt, aus der Kirche auszutreten. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat deshalb Gläubige befragt, um Strategien gegen die Abwanderung von Mitgliedern zu entwickeln. Den meisten wünschen sich Offenheit und Transparenz.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)

Stuttgart - Fast 25 Prozent der katholischen Christen in Württemberg haben schon ernsthaft überlegt, aus der Kirche auszutreten. Das zeigt eine am Mittwoch vorgestellte Studie des Pragma-Instituts für die Diözese Rottenburg-Stuttgart. Organisationstheoretisch könne man hier von einem hohen „Risikopotenzial“ sprechen, sagte der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst bei der Präsentation der Zahlen. „Menschlich und pastoral gesprochen ist das ein Trauerspiel.“

 

Die Diözese hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben, um die Gründe für die seit zwanzig Jahren anhaltende Abwanderung von Kirchenmitgliedern besser kennen zu lernen und Gegenstrategien zu entwickeln. Seit 1990 kehrten durchschnittlich pro Jahr rund 10 650 Menschen der Diözese den Rücken. Das bedeutet im Mittel ein Minus von 0,5 Prozent. Einen Rekord gab es allerdings im Jahr 2010, als das Bistum um 15 650 Gläubige schrumpfte, nachdem zahlreiche, meist länger zurückliegende Missbrauchsfälle in der Öffentlichkeit bekannt geworden waren.

„Entfremdung“ ist das häufigste Motiv für einen Austritt

Zwar sind die individuellen Motive für einen Austrittswillen ganz unterschiedlich. An erster Stelle rangiert laut der Studie aber die „Entfremdung“ von der Religionsgemeinschaft. 35 Prozent der Interviewten nannten dieses Motiv. „Die Kirche hat sich von vielen Menschen entfernt“, schließt Bischof Fürst aus dem Wert. Finanzielle Gründe für eine Austrittsbereitschaft geben dagegen nur 15 Prozent an. Danach folgt mit 14 Prozent die Moral- und Sittenlehre der katholischen Kirche sowie mit zwölf Prozent der Missbrauch. Rund 4000 Personen wurden für die Untersuchung befragt, und die meisten wünschen sich einen Erneuerungsprozess. So befürworten 87 Prozent, dass die Kirche sich weniger „abgehoben“ ausdrückt. 93 Prozent mahnen mehr Offenheit und die Bereitschaft zum Zuhören an. „Die Menschen erwarten von uns eine ehrliche Dialogbereitschaft“, sagt Fürst dazu.

Der Theologe streicht aber auch die aus seiner Sicht positiven Resultate der Studie heraus. So sei die Kirchenbindung trotz allem ziemlich stabil geblieben. Dreiviertel der Befragten haben nämlich noch nie einen Kirchenaustritt erwogen. Viele nennen zudem den Glauben, etwa neben der Tradition und der Gemeinschaft, als einen Grund für ihre Verbundenheit.

Die „konservativen Aktivisten“ als schwache Minderheit

Hoffnung für die Zukunft macht Fürst auch, dass laut der Studie ein jüngeres Milieu zumindest in geringerem Umfang in den Gemeinden vertreten ist. Dahingegen sind zumindest in der Diözese Rottenburg-Stuttgart „konservative Aktivisten“ nur eine schwache Minderheit. Damit im Einklang steht, dass die Befragten „Offenheit und Toleranz“ als wichtigsten Wert einstufen, dass sie sich eine gesellschaftlich aktive Kirche wünschen und vom Christentum Orientierung in ethischen Fragen erwarten. Fast 90 Prozent verlangen auch, dass die Kirche stärker mit anderen gesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeitet. Der Weg in ein selbst gewähltes Getto verbiete sich also, schlussfolgert Gebhard Fürst.

Der Bischof sieht durch die Untersuchung den von ihm eingeleiteten Erneuerungs- und Dialogprozess zwar bestätigt. Er will aber Konsequenzen aus der Expertise ziehen. Die Kirche müsse sich noch mehr einmischen, sie müsse stärker die Nähe zu den Menschen suchen, sagt er. So dürften ihre „Seelsorgeeinheiten nicht zu anonymen Großorganisationen werden“. Außerdem solle sie ihre Kommunikation verbessern. Wie man diese guten Vorsätze nun konkret umsetzt, möchte Fürst freilich erst in den Gremien diskutieren lassen: „Wir können nicht alles auf einmal machen, sondern müssen Schritt für Schritt vorangehen.“