Exklusiv Warum ist der Große Verkehrsvertrag mit der Bahn für das Land so ungünstig? Ein jetzt aufgetauchtes Dokument nährt den Verdacht, dass damit Stuttgart 21 gefördert werden sollte. Die Bahn bestreitet freilich einen Zusammenhang.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Günther Oettinger stand im Frühjahr 2005 kurz vor seinem Amtsantritt als Ministerpräsident, da wurde er vom Verkehrsministerium bereits für eines der wichtigsten Projekte seiner Regierungszeit gebrieft. In einem „Grundlagenvermerk“ informierte ihn das damals von Stefan Mappus geführte Ressort über den Stand der Dinge bei den Bahnprojekten Stuttgart 21 und Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. „Die endgültige Entscheidung über die Realisierung . . . steht bevor“, begann das zwölfseitige Papier. Sodann wurden Oettinger von der zuständigen Fachabteilung die vertraglichen Grundlagen, die Kostenentwicklung und das Finanzierungskonzept erläutert.

 

Neun Jahre später wird ein Passus aus dem Vermerk, der erst jetzt bekannt wird, plötzlich wieder relevant. Er betrifft den Großen Verkehrsvertrag mit der Deutschen Bahn, den der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann als für das Land „ökonomisch äußerst nachteilig“ kritisiert. Viel zu teuer sei die im Jahr 2003 mit der DB Regio vereinbarte Bestellung von Zügen bis 2016. Rund 140 Millionen Euro will Hermann einbehalten, weil Kostensteigerungen doppelt ausgeglichen würden, insgesamt könnte das Land nach Berechnungen seiner Experten sogar bis zu einer Milliarde Euro zu viel bezahlen.

Bessere Wirtschaftlichkeit dank Zugbestellung

Warum wurde überhaupt ein für die Bahn so günstiger Vertrag geschlossen? Eine schon länger kursierende Vermutung wird durch den Vermerk für Oettinger nun erhärtet: es ging – zumindest auch – darum, das damals taumelnde Projekt Stuttgart 21 zu retten. In einem Zusatzvertrag vom Juli 2001, so wurde dem künftigen Premier dargelegt, habe das Land mehrere Maßnahmen „zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit“ zugesagt – etwa den Abschluss eines Verkehrsvertrages ab Ende 2002 „bis zur endgültigen Fertigstellung“ des Tiefbahnhofs – die damals noch für 2012 erwartet wurde – und die „zusätzliche Bestellung von Verkehren“ auf bestimmten Strecken.

Der Verkehrsvertrag kam zwar erst 2003 zustande, doch der gewünschte Effekt stellte sich offenbar ein. Durch die zusätzlich vereinbarten Maßnahmen „konnte die Wirtschaftlichkeitsrechnung verbessert werden“, erfuhr Oettinger 2005. Folge: „Die DB AG nahm daraufhin die Planungen für die Projekte wieder auf.“ War der Verkehrsvertrag also doch ein wichtiger Finanzierungsbaustein für Stuttgart 21, wie Kritiker seit langem argwöhnen? Für Verkehrsminister Hermann steht der Zusammenhang außer Frage. „Querbeziehungen zwischen dem Großen Verkehrsvertrag und dem Projekt Stuttgart 21 wurden von der alten Landesregierung hergestellt und seinerzeit auch offen kommuniziert“, sagte er der StZ. Nur über Höhen und Summen der Kostenbeziehung seien die Beteiligten uneins gewesen, was auch der Vermerk für Oettinger dokumentiert.

Bahn sieht „keine konkreten Auswirkungen“

Ganz anders klingt das bei der Deutschen Bahn. Man bleibe dabei, dass kein Zusammenhang zwischen den Konditionen des Verkehrsvertrages und der Zusatzvereinbarung zu Stuttgart 21 bestehe, sagte ein Sprecher. Schon 2010 habe die damals noch CDU-geführte Landesregierung klargestellt, dass die Abmachung „keine konkreten Auswirkungen“ gehabt habe. Unstrittig sei, dass Verkehrskonzepte einen Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit von Infrastrukturmaßnahmen hätten – ganz gleich, wer diese Verkehre fahre. Das Land habe sich damals aber nicht verpflichtet gesehen, einen Verkehrsvertrag mit der DB Regio abzuschließen, betont der Sprecher; das sehe man auch daran, dass zuvor nach anderen Anbietern Ausschau gehalten worden sei. Fazit der Bahn: „Der Verkehrsvertrag wurde unabhängig von der genannten Vereinbarung abgeschlossen.“

Beim ökologisch ausgerichteten Verkehrsclub Deutschland (VCD) mag man das nicht recht glauben. Mit dem Verkehrsvertrag habe das Land „bewusst auf Ausschreibungsgewinne verzichtet, die sich in anderen Bundesländern inzwischen zu einem Milliardenbetrag summieren“, rügt der VCD-Landeschef Matthias Lieb. Zudem seien weitaus weniger Zugkilometer neu vergeben worden als ursprünglich geplant. Es sei „sehr unwahrscheinlich, dass dies alles nur zufällig und unbewusst zustande gekommen ist“. Zumindest hätte man „schon vor einigen Jahren nachsteuern müssen“, sagt Lieb; der Verdacht der Absicht und des „bewussten Wegsehens“ dränge sich da geradezu auf.

Ein dritter Punkt aus der Vereinbarung von 2001 ist übrigens unstrittig: Gut 100 Millionen Euro wollte das Land für die Fahrzeugförderung ausgegeben. Wegen Wettbewerbsbedenken kam das Geld dann aber Investitionen der Bahn in das baden-württembergische Schienennetz zugute.