Warnungen von Wissenschaftlern werden fast immer ignoriert. Dabei könnte man viel gewinnen, wenn man rechtzeitig vorbeugt, folgert die Europäische Umweltagentur EEA in einer Analyse von Beispielfällen. Dass zu früh „Alarm!“ gerufen werde, sei selten.

Stuttgart - Zum Abschluss ihrer Amtszeit kann sich die Chefin der Europäischen Umweltagentur (EEA), Jacqueline McGlade, noch über einen Teilerfolg freuen: Ende April machte das EU-Parlament den Weg frei für das vorläufige Verbot von Pestiziden, die für das Bienensterben in Europa mitverantwortlich gemacht werden. Damit zieht die EU Konsequenzen aus einem Umweltskandal, der seit Jahrzehnten Industrie, Politik und Umweltschützer beschäftigt – und auch in die umfassende aktuelle EEA-Studie „Späte Lektionen aus frühen Warnungen“ eingegangen ist.

 

Denn auch im Fall der Neonikotinoide brauchte es viele Jahre, viele tote Bienen und viele vergiftete Äcker, bis ein gefährlicher Stoff aus dem Verkehr gezogen wurde. Schon 1994 hatten französische Imker von toten und kranken Bienen berichtet, nachdem das Insektizid Gaucho des Chemiekonzerns Bayer auf die Äcker gesprüht wurde. Im Streit über das Mittel zeigte sich, dass die Messungen zu ungenau waren, das Problem zu entdecken, dass Forscher bedrängt wurden, wenn ihre Ergebnisse nicht ins politische Kalkül passten – und dass die französischen Behörden unfähig waren, den Konflikt beizulegen. Der Aufstand der Imker und der Druck von Bayer ließen den Konflikt eskalieren, bis das Mittel schließlich vom Markt genommen wurde.

Das ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, zeigt „Late Lessons from early Warnings“. Anhand von Beispielen legt die Studie dar, wie wenig alle Bekenntnisse zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise in der Realität wert sind. Denn als Fazit der Studie, die Dutzende von internen und externen Experten erstellt haben, steht für die oberste Umweltbehörde der EU eine bittere Erkenntnis. Die aktuelle Studie und ihre Vorgängeruntersuchung von 2001 zeigten „systemische Probleme“ auf: Es gebe weltweit keine Institutionen, die auf frühe Warnsignale reagieren könnten, um „Marktversagen zu korrigieren“. Und vielleicht das größte Problem: „zentrale Entscheidungen“ würden „von denen getroffen, die ihre eigenen Interessen verfolgen“.

Dass das bisher nicht gut gegangen ist, zeigen die Fallbeispiele aus der Chemie-, Verkehrs-, Energie- und Hightechindustrie, welche die EEA zusammengestellt hat. „Viele Leben wären gerettet und viele Schäden für Ökosysteme vermieden worden“, analysieren die obersten europäischen Umweltschützer, „wenn das Vorsorgeprinzip bei gerechtfertigtem Anfangsverdacht angewandt worden wäre.“

Eigentlich ist das Vorsorgeprinzip Teil zahlreicher Verträge

Die Muster ähneln sich: Frühe Bedenken und Warnungen aus der Wissenschaft werden nicht ernst genommen, unterdrückt und ignoriert; Behörden kommen ihrer Aufsichtspflicht nicht nach; Unternehmen setzen Druck und Drohungen ein, um schärfere Gesetze zu verhindern. Die Beispiele für das kurzsichtige Denken stammen aus der ganzen Welt: die japanische Regierung vertuscht den Skandal um Krebs erregende Einleitungen in die Bucht von Manamoto; die Tabakindustrie in den USA finanziert eine Kampagne zur Verleumdung von Wissenschaftlern und zur Verzerrung der Wahrheit, um möglichst lange Gesetze gegen das Rauchen zu verhindern – ein Vorbild für die spätere Arbeit der „Klimaskeptiker“, die auf Betreiben der Öl- und Kohleindustrie versuchen, Zweifel an der Klimaforschung zu säen.

Vom Ideal des Vorsorgeprinzips bleibt da nicht viel übrig, denn dessen Idee ist es, schon dann einzugreifen, wenn sich wissenschaftlich begründete Risiken zeigen – und nicht zu warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Dieses Prinzip wurde 1992 offiziell bei der UN-Konferenz in Rio de Janeiro anerkannt; die EU hat es in den Vertrag von Maastricht übernommen.

„Vorsorge ist immer eine Abwägung verschiedener Güter“, sagt Felix Ekardt, Professor für Umweltrecht in Rostock und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig. Dabei seien die Güter, die es zu schützen gelte, aber oft zeitlich und räumlich weit entfernt und diffus. „Die Arbeitsplätze in der verschmutzenden Fabrik sind dagegen sehr nah“, sagt Ekardt. Tatsächlich rechne etwa die EU in der Begründung ihrer Leitlinien etwa beim Thema Feinstaub Opferzahlen gegen wirtschaftliche Vorteile auf. Das sei auch nachvollziehbar, denn „Leben ist immer die Wahl zwischen Risiken“ – aber wenn das deutlicher gesagt werde, „fällt die Entscheidung vielleicht ein wenig öfter für die Vorsorge“. Ganz deutlich ist für Ekardt das Versagen des Vorsorgeprinzips beim mangelhaften Klimaschutz. Der könne durchaus auch vor Gericht eingeklagt werden, ist der Jurist überzeugt. Das ist allerdings nicht herrschende Lehre.

Nicht zu handeln, kann teuer werden

Als Konsequenz verlangt die EEA, Warnsignale sollten ernster genommen werden. Auch sollte die Politik nicht darauf warten, dass die Wissenschaft alle Zweifel ausgeräumt hat. Denn „die historischen Beispiele zeigen, dass zum Zeitpunkt solch eindeutiger Beweise der Schaden für Menschen und Umwelt weiter verbreitet und größer ist, als wenn gleich gehandelt worden wäre“. Deshalb haben sich die Wissenschaftler auch mit den Vorwürfen von „Ökooptimisten“ beschäftigt, frühe Warnungen stifteten Panik und lösten unnötigen Aktionismus aus. Stimmt nicht, ist das Ergebnis der umfangreichen Analyse: Von 88 Fällen weltweit, die als falscher Alarm bezeichnet wurden, zeigten sich nur vier als wirklich nachteilige Schnellschüsse: In den 70er Jahren impften die USA die Bevölkerung gegen die Schweinegrippe, pflanzten zu viel Mais, weil sie an ein Aufkommen von Schädlingen glaubten, stellten den Süßstoff Saccharin fälschlich unter Krebsverdacht und zögerten die radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln hinaus. In allen anderen Fällen, in denen den Behörden übertriebener Eifer vorgeworfen wurde – etwa saurer Regen, Agent Orange, DDT, Dioxin, Formaldehyd und passives Mitrauchen – lagen die Warner entweder richtig oder das frühzeitige Eingreifen richtete keinen nachweisbaren Schaden an.

Dass sich Unternehmen trotzdem oft vehement gegen solche Vorsorge wehren, erklärt Rodney Irwin, Experte für Risikomanagement beim Weltwirtschaftsrat für nachhaltige Entwicklung (WBCSD) vor allem mit der Konzentration auf kurzfristige Erfolge. „Die meisten Manager schauen nicht weiter als ein bis eineinhalb Jahre voraus.“ Oft meinten sie, negative Auswirkungen seien unwahrscheinlich, auch wenn die Fakten dagegensprächen. „Wir Menschen sind gut darin, Dinge nicht sehen zu wollen oder zu rechtfertigen“. Schließlich fürchteten Firmen auch juristische Probleme, wenn sie zugäben, dass ihre Produkte eventuell gefährlich seien.

Auch Nichthandeln hat seine Kosten. Die Luftverschmutzung in Europa kostet nach Berechnungen der UN-Gesundheitsorganisation WHO drei bis fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Welche Ausgaben dagegen gespart werden können, wenn eine Gefahr gebannt wird, zeigt das einzige Erfolgsbeispiel für das Vorsorgeprinzip im Großformat: das Verbot von ozonschädlichen Substanzen im Montreal-Protokoll von 1986. Durch die rasche Entscheidung, alle fluorierten Kohlenwasserstoffe abzubauen, wurde nicht nur das Ausweiten des Ozonloch gebremst, das sich bis 2050 wieder geschlossen haben soll, sondern auch potente Treibhausgase wurden unter Verschluss gehalten, die zu einem deutlich schnelleren Klimawandel geführt hätten.