Die Verlegung der Patienten von Waiblingen und Backnang in den Klinik-Neubau nach Winnenden klappt nahezu reibungslos. Die alten Hospitäler haben seit dem Wochenende ausgedient.

Waiblingen - Jürgen Winter hat nicht gut geschlafen in der Nacht vor dem Tag X. Der Geschäftsführer der Rems-Murr-Kliniken war um ein Uhr wach. Er war um vier Uhr wach. Um fünf Uhr ist er aufgestanden. Ausgeschlafen? Nein, nicht wirklich. Egal, der ungewöhnliche Arbeitstag beginnt.

 

Samstagmorgen, 6.55 Uhr.
Klinikum Winnenden. Das nagelneue Krankenhaus wird heute bezogen. Es herrscht eine Mischung aus Anspannung, Vorfreude und Betriebsamkeit. Die Helfer ziehen ihre weißen Mützen auf und besprechen sich ein letztes Mal. Im Eingangsbereich steht eine Bettenarmada für die rund 120 Patienten bereit, die in den nächsten Stunden vom Waiblinger Kreiskrankenhaus nach Winnenden umziehen werden. Wesentlich weniger, als ursprünglich angenommen. Man hatte mit fast 200 gerechnet. „Das ist das gleiche Phänomen wie an Weihnachten. Da beklagen sich auch immer alle, wie voll es ist – und schließlich können manche Stationen fast zugemacht werden. Die Ärzte regeln das“, sagt Ulrike Negwer. Viele Waiblinger Patienten wurden doch noch entlassen, andere im Krankenhaus Schorndorf aufgenommen. Ulrike Negwer ist die Umzugsleiterin, sie arbeitet seit zweieinhalb Jahren auf diesen Augenblick hin. Unmittelbar vor dem Startschuss bleibt sie aber ruhig, auch wenn sie ständig hin- und herflitzt, um noch die letzten Details zu regeln.

Jürgen Winter gibt sich ebenfalls gelassen. Doch dann droht Plan B. Weil die Patienten nicht entlassen und gleich wieder aufgenommen werden können, sollen diese im Computersystem während des Umzugs lediglich für ein paar Minuten in die Kategorie „Urlaub“ verschoben werden. Das System mag die Patienten aber nicht wieder hergeben. Nach einem Neustart des Systems funktioniert Plan A dann doch. „Sind alle bereit?“, fragt Winter. Polizei, Rotes Kreuz, Feuerwehr, Umzugsteam – alle signalisieren, dass es los gehen kann.

Waiblingen, 7 Uhr.
Zwei Krankenschwestern verlassen das alte Klinikgebäude zum aller letzten Mal. Sie sei schon „ein bisschen traurig“, sagt eine der beiden, sie habe immerhin 18 Jahre lang hier gearbeitet. „Aber: neues Haus, neue Chance.“ Bereits am Abend werde sie ihre erste Nachtschicht im Winnender Klinikum antreten.

Rund um das Waiblinger Hospital stehen etwa drei Dutzend Fahrzeuge bereit, Kranken- und Rettungswagen sowie für die mobileren Patienten Minibusse. Im Foyer warten Krankenschwestern, Ärzte und andere Helfer auf den Startschuss. Im Zimmer 212 auf Station zwei liegt Herbert Hondra. Er ist 80 Jahre alt und einer der Patienten, die heute umziehen müssen. Der Mann aus Nellmersbach hatte vor zwei Tagen eine Herz-OP. Ein Notfall. Hondra erzählt, dass er noch nie im Krankenhaus gewesen sei. Ausgerechnet die Umzugswoche habe er sich aussuchen müssen und deshalb den Urlaub in Rumänien sausen lassen. Um 8.15 Uhr sei er dran, heißt es. Ihm ist’s egal, „ob ich hier liege oder dort – am schönsten ist es eh daheim“, sagt er und grinst. Im Erdgeschoss wird es hektischer. Um kurz vor 8 Uhr startet der erste Rettungswagen, mit gut 20-minütiger Verspätung. An Bord ist der kleinste Patient. Ein Frühchen, das nur 800 Gramm wiegt, liegt im Brutkasten.

Winnenden, 7.50 Uhr.
Bevor das Frühchen aus Waiblingen eintrifft, erreicht ein Notfallpatient das neue Klinikum. Der Alltag beginnt früher als gedacht. Auch die Kinder- und Jugendambulanz ist gleich zu Beginn der Sprechstunde um acht Uhr das erste Mal gefordert. „Ein Kind hat heute nacht gespuckt, ein anderes ist aus dem Bett gepurzelt“, berichtet der Bereitschaftsarzt Ralf Brügel von den ersten Fällen. Der große Ansturm bleibt aber aus. „Ich denke, dass einige Eltern der Umzug abschreckt und sie sich genau überlegen, ob sie heute herkommen“, sagt Brügel.

Die ersten zwei ganz kleinen Babys aus Waiblingen werden kurz darauf in ihren Inkubatoren auf die Neonatologie gebracht. Frühchen Nummer eins ist in der 25. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen und gerade einmal zwei Wochen alt. „Der Transport war nicht ganz einfach. Das Mädchen hat zweimal den Atem angehalten. Dann fällt die Herzfrequenz ab und wir müssen helfen“, sagt die Oberärztin Virginia Toth, die das Baby auf seinem Weg nach Winnenden begleitet hat. Ein paar Türen weiter, bei der Geburtshilfe, ist die leitende Hebamme schon gespannt, wann sich das erste Winnender Baby ankündigt. „Heute nacht sind zwei Kinder in Waiblingen auf die Welt gekommen. Das werden vermutlich die letzten in dem Krankenhaus gewesen sein“, sagt Marielle Korn.

Waiblingen, 8.30 Uhr.
Bettenstau vor den Aufzügen. Die Hauswirtschaftsleiterin will wissen, ob in Waiblingen noch Mittagessen ausgegeben werden sollen. Herr Hondra wartet zwar immer noch, aber Beate Stumpp sagte: „Alles geht schneller als geplant.“ Sie ist die Leiterin der Stabsstelle Personalmanagement und führt an diesem Tag akribisch Buch, weiß zu jeder Zeit, welcher Patient wann genau mit welchem Auto das Haus verlassen hat. Frau Stumpp steht ständig im Telefonkontakt mit den Kollegen in Winnenden. Kommt ein Patient an, wird sein Name auf ihrer Liste abgehakt. Winnenden, 9 Uhr.
Markus Schaich hat den Umzug bereits hinter sich: „Unsere 13 Patienten waren innerhalb von 40 Minuten auf der Straße“, erzählt der Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin zufrieden. Sie waren die ersten, weil viele von ihnen ein geschwächtes Immunsystem haben – etwa nach einer Chemotherapie wegen einer Krebserkrankung. „Ich habe schon bei den Patienten vorbeigeschaut, und für alle ist der Transport gut gewesen“, sagt Schaich, dessen komplettes Team im Einsatz ist. Als kleine Anerkennung und Erinnerung hat er für sie Medaillen mit der Aufschrift „Umzug 2014. Wir waren dabei“ anfertigen lassen. Viel Überredungskunst war allerdings nicht notwendig, um Helfer unter den Mitarbeitern zu finden. „Das ist einfach ein denkwürdiger Tag.“

Mit seiner neue Arbeitsstätte ist Schaich glücklich: „Ich bin ein totaler Fan des Klinikums. Und froh, dass wir endlich enger beieinander sind und Synergien nutzen können.“ Während Schaich sich entspannen kann, steigt bei seinen Kollegen in der Aufnahmestation der Puls. Nach einem Unfall auf der B 29 werden zwei Schwerverletzte eingeliefert. Der Umzug geht trotzdem reibungslos weiter – um halb zehn ist bereits die Hälfte der Patienten in Winnenden. Waiblingen, 10 Uhr. Beate Stumpp sagt, dass mittlerweile 70 Patienten die Klinik verlassen hätten. Mittagessen bekommt vermutlich keiner mehr in Waiblingen. Alles läuft wie am Schnürchen. Herr Hondra indes wartet immer noch. „Die Station ist fast leer“, sagt eine Schwester. Sie spricht von „einen komischen Gefühl“. Und Herr Hondra berichtet, dass ihm mehrere Angestellte gesagt hätten, sie seien nicht wirklich glücklich wegen des Umzugs. Die Anbindung der neuen Klinik an den öffentlichen Personennahverkehr sei schlecht. Kurz nach zehn Uhr ist es dann soweit. „Herr Hondra, machen Sie sich keine Sorgen“, sagt der Rettungsassistent René Demisch und schiebt den Patienten in den Aufzug. Es ist Demischs dritte Fahrt nach Winnenden. Um halb elf setzt sich der DRK-Rettungswagen 6/83-2 in Bewegung.

Winnenden, 11.38 Uhr.
Der Patient mit der Nummer 5284 ist am Ziel. Im Neubau wird Herr Hondra auf der Station 31 von seinem Zimmergenosse aus Waiblingen empfangen. Dieser war schneller.

Waiblingen, 11.52 Uhr. Der letzte Patient wird auf die Reise geschickt. Kurze Hektik. Ein Name steht noch auf Beate Stumpps Liste. Aber wo ist das Kind? Bald stellt sich heraus, dass es am Morgen von der Mutter abgeholt worden ist. Der Patientenumzug geht zu Ende – und mit ihm die Geschichte des Kreiskrankenhauses Waiblingen.

Winnenden, 12 Uhr. Der Klinikgeschäftsführer Winter ist erleichtert und sagt, er sei „super zufrieden“. Vermutlich schäft er in der kommenden Nacht ruhiger.

Der zweite Umzug am nächsten Tag ist fast schon Routine. 68 Patienten aus der Backnanger Klinik sowie sieben aus dem Klinikum Schloss Winnenden werden am Sonntag verlegt. Rund 800 Klinikmitarbeiter, 100 Männer und Frauen vom DRK, 20 Polizeibeamte sowie 15 Helfer vom Technischen Hilfswerk sind an den Umzügen beteiligt. Alles sei sehr gut vorbereitet gewesen, erklärt Johannes Stocker, der DRK-Rettungsdienstleiter. Der erste Eingriff im neuen OP ist eine Blinddarmoperation am Samstag gegen 21 Uhr. Im Kreißsaal der Klinik erblickt am Samstag um 22.55 Uhr das erste Winnender Baby, ein Mädchen, das Licht der Welt. Am Sonntagnachmittag versorgt das Hospital bereits 234 Patienten. Landrat Johannes Fuchs bejubelt den „erfolgreichen Betriebsstart“ der Klinik.

Die Winnender Klinik erstetzt Backnang und Waiblingen

Kapazität
Das neue Krankenhaus in Winnenden verfügt über 620 Betten. Um die Patienten werden sich rund 215 Ärzte sowie 520 Pflege- und Funktionskräfte kümmern. Inklusive des Krankenhauses in Schorndorf beschäftigen die Rems-Murr-Kliniken 300 Ärzte und 750 Pflegekräfte.

Kosten
Die ersten Schätzungen waren von Aufwendungen in Höhe von 172 Millionen Euro ausgegangen. Später wurde das Budget auf 266 Millionen gedeckelt. Mittlerweile rechnen die Verantwortlichen mit fast 300 Millionen Euro. Wegen massiver Rückschläge beim Bau war die ursprünglich für den Jahreswechsel 2012/2013 vorgesehene Eröffnung mehrmals verschoben worden. Zunächst gab es Risse im Fundament der Klinik, dann in dem fast fertig gestellten Krankenhaus zwei verheerende Wasserschäden durch nicht korrekt verpresste Rohre.

Altareale
Die Kliniken in Waiblingen und Backnang werden nach dem Umzug geschlossen. Die Areale sollen von der Landkreistochter Kreisbau gekauft, in Abstimmung mit den Kommunen entwickelt und möglichst gewinnbringend verkauft werden. In Backnang werden voraussichtlich noch in diesem Herbst fast alle Gebäude abgerissen. Die Stadt will das Gelände weiterhin für medizinische und gesundheitsbezogene Zwecke nutzbar machen. Im Gespräch ist eine Spezialeinrichtung für schwerst demenziell erkrankte Patienten. Außerdem gibt es Überlegungen zum Bau eines Mehrgenerationenhauses sowie von Miet- und Eigentumswohnungen. In Waiblingen sollen die Appartementhäuser entlang der Winnender Straße stehen bleiben. Das Gebäude wird für die Grundbuchabteilung des Amtsgerichts Waiblingen saniert und erweitert. Auch das Parkhaus wird wohl erhalten bleiben. Oberhalb davon will das Landratsamt ein neues Verwaltungsgebäude errichten, in welches das Sozialdezernat einziehen könnte. Die übrigen Flächen sollen für Büro- und Verwaltungszwecke sowie Wohnbebauung aufbereitet werden.