Wer umzieht, muss sich ohnehin bewegen – räumlich und geistig. Die Neuorientierung am neuen Wohnort kann man dazu nutzen, umweltfreundliche Wege zu gehen. Ein Modellprojekt hat Erfahrungen in sechs Kommunen gesammelt.

Stuttgart - Umgezogen? Umgedacht!“, steht groß auf dem grünen Tütchen mit Bio-Kressesamen. Und etwas kleiner darunter: „Je näher, desto besser. Kräuter von der Fensterbank. Transportweg: 0 Kilometer.“ Verteilt werden die Samenspender aus Papier von allen Verbraucherzentralen, die für einen „Neustart fürs Klima“ werben – und zwar gezielt bei allen Menschen, die ihren Wohnort wechseln.

 

Die Idee dahinter ist so raffiniert wie simpel: Wer umzieht, muss sich bewegen, auch im übertragenen Sinne. Denn dann gilt es, neue Fahr- und Fahrradwege oder Buslinien zum Arbeitsplatz und zur künftigen Schule der Kinder zu erkunden, den Stromanbieter oder Gaslieferanten zu wechseln, aber auch neue Lebensmittelläden ausfindig zu machen und andere Menschen kennen zu lernen. Solche Neubürger sprechen die Mitarbeiter des bundesweit angelegten Projekts „Neustart fürs Klima“ gezielt an, um sie für Klimaschutz-Aktionen im Alltag gewinnen. Koordinator des Projekts ist die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, gefördert wird es vom Bundesumweltministerium im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative.

Ortsansässige hängen am Gewohnten

„Neu Zugezogene haben sich als recht gute Zielgruppe erwiesen, weil sie sich in einer Stadt erst mal neu orientieren und für Tipps offen sind“, sagt Martina Schaefer vom Zentrum für Technik und Gesellschaft (ZTG) der Technischen Universität Berlin. „Die Idee ist, sie zum Beispiel rechtzeitig für den ÖPNV und Radfahren zu motivieren, bevor sie ihre neuen Alltagsroutinen entwickelt haben.“ Denn schon länger Ortsansässige seien „in der Regel nicht mehr offen dafür“, eingespielte Abläufe oder Vorlieben zu ändern. Sie legen ihre täglichen Wege oft aus Gewohnheit mit dem Auto zurück oder kaufen Lebensmittel dort ein, wo sie immer schon eingekauft haben. Und an dem alten Stromtarif kleben sie seit vielen Jahren. Dass in manchen Läden oder auf Stadtteilmärkten Gemüse und andere Erzeugnisse aus der Region angeboten werden, erscheint nicht auf ihrem Radar. Sie steuern quasi per Autopilot durch ihr Leben, hängen am Gewohnten.

Spaziergang mit dem Bürgermeister

Zwei Jahre lang haben Verbraucherschutzzentralen in sechs Modellkommunen Erfahrungen damit gesammelt, wie sich Neubürger, darunter auch Studierende und Menschen mit ausländischen Wurzeln, am ehesten für die Belange eines nachhaltigeren und klimaschonenden Umgangs mit Ressourcen sensibilisieren lassen.

Seit Mai 2013 sind Projektteams der Städte Hamburg und Alzey/Wörrstadt, Dillingen an der Saar und Bonn sowie Kassel und Halle an der Saale mit immerhin 4600 von jährlich gut 140 000 Neubürgern ins Gespräch gekommen. Sie haben sie mit eigens aufbereiteten Informationen und Gutscheinen versorgt oder sie in spezielle Aktionen wie zum Beispiel Rundgänge zum Kennenlernen ihres neuen Wohnortes einbezogen. Gerade solche Spaziergänge, bei denen man auf andere Menschen in ähnlicher Lebenslage trifft, kommen offenbar sehr gut an – zumal dann, wenn der Bürgermeister selbst die Zuzügler durch die Stadt führt, so wie dies Franz-Josef Berg im saarländischen Dillingen tut.

Klimaschutz mit aktuellen Bedürfnissen verbinden

Allerdings sollte mit dem Thema Klimaschutz besser nicht offensiv werben, wer einen Info-Abend für Zuzügler anbieten oder wer Frauen mit Migrationshintergrund für einen Sprach- oder Kochkurs gewinnen möchte. „Man muss die Neubürger dort abholen, woran sie gerade Interesse haben: nämlich die Stadt, wichtige Anlaufstellen und neue Leute kennen zu lernen“, sagt Martina Schaefer, die zu Motivationsfragen beim Klimaschutz geforscht hat. Deshalb gelte es, das Umweltthema mit seinen vielen Aspekten „so zu verpacken, dass es das Bedürfnis der Neubürger trifft“. Und wenn man bei einem organisierten Stadtbummel den Öko-Markt zeige oder die Carsharing-Station, „dann kann man beides gut miteinander verbinden“.

Speziell eine Kommune, die auch Menschen aus fremden Kulturen für Themen wie Energiesparen oder regionalen Konsum erwärmen möchte, muss aktiv werden. „Wir müssen dorthin gehen, wo die Migranten sind, die kommen nicht zu uns“, sagt Cordula Zimper, Klimaberaterin bei der Verbraucherzentrale des Saarlandes, die „auch die Randgruppen mit ins Boot holen“ möchte. In der saarländischen Modellgemeinde Dillingen, einer Stadt mit 21 000 Einwohnern, steigt deshalb einmal jährlich ein internationales Frauenfest; es werden Solarkocher verlost und Strom-Messgeräte vorgeführt, die Kinder erhalten Energiespar-Malbücher. Und natürlich sind die Infobriefe in die Sprachen der Neubürger übersetzt, zumindest in die wichtigsten.

Selbst in Deutschkursen an der Volkshochschule lernen die im Ausland geborenen Neu-Dillinger ein wenig über die Vorzüge des Öko-Stroms, kurze Waren-Transportwege und die Möglichkeiten, wohnortnah saisonales Gemüse aus der Region zu erhalten, um damit traditionelle Gerichte aus dem Heimatland zu kochen. Hilfreich dabei sind Gemüse-Attrappen aus Stoff.

Migranten sind eine aufgeschlossene Gruppe

Migranten sind aufgeschlossen

Zimpers Fazit sollte anderen am Thema interessierten Kommunen Mut machen: „Migranten sind per se eine sehr aufgeschlossene Gruppe“ – anders als die mit Umwelt- und Klimaschutz-Appellen überfütterten Deutschen. Und diese Bevölkerungsgruppe sei relevant, denn ein gutes Viertel der umziehenden Neubürger in der Bundesrepublik habe keinen deutschen Pass. Wer sie erreichen und motivieren möchte, sollte lokale Frauen- und Integrationsbeauftragte, aber auch interkulturelle Verbände aktivieren und auch den Gang in die nächstgelegene Moschee nicht scheuen, um mit dem Imam oder einem Vertreter des Moscheevereins zu sprechen. Denn beide verfügen über viel Einfluss, gerade bei muslimischen Männern.

Zwar sei Klimaschutz aus Sicht vieler muslimischer Neubürger zunächst „ein Luxusthema, weil diese Leute oft wirtschaftliche Probleme oder einen Sohn haben, der von der Hauptschule zu fliegen droht“, wie Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZFTI) in Essen anmerkt. Andererseits sind der Umwelt- und Klimaschutz auch Muslimen wichtige Anliegen, etwa der sorgsame Umgang mit der Schöpfung. „Und Verschwendung ist eine Sünde im Islam.“ Tipps zum Vermeiden unnötiger Stromkosten durch Elektrogeräte im Leerlauf- oder Standby-Betrieb sind also gleich doppelt willkommen.

Was deutschen und ausländischen Neubürgern gleichermaßen imponiert, sind ranghohe Mitglieder der Stadtverwaltung, die mit gutem Beispiel vorangehen – so wie der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der auch im Dienst weitgehend aufs Auto verzichtet und lokalen Klimaschutz großschreibt. „Politiker mit Vorbildfunktion wirken immer authentisch, nur wird das nicht immer möglich sein“, sagt auch die ZTG-Professorin Martina Schaefer. „Aber vorbildlich könnte ja auch die öffentliche Beschaffung sein, etwa ein städtischer Fuhrpark auf Carsharing-Basis, und das machen ja auch manche Kommunen schon.“ Oder man sehe es den kommunalen Gebäuden an, dass sie klimasaniert sind, und lese etwas darüber in der lokalen Zeitung. „Die Bürger müssen einfach sehen: Aha, die machen das also auch!“

Infos zum Projekt „Neustart fürs Klima“

Ratschläge
Noch bis Ende Juni können sich interessierte Kommunen bei den Projektteams der sechs Modellkommunen Ratschläge holen, wie sie ihre Neubürger für den Klimaschutz gewinnen können.

Leitfaden
Auch die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen beantwortet Fragen und hält einen auf ihren Internetseiten abrufbaren Leitfaden für Kommunen bereit (www.vz-nrw.de/leitfaden).

Projektseiten
Weitere Infos zu den Themen Klimaschutz und Energiesparen finden sich auf den Projektseiten unter www.neustart-klima.de sowie auf www.klima-kampagnen-baukasten.de.