Die Betriebe versprechen Azubis glänzende Zukunftsaussichten, doch bei den Jugendlichen zündet das nur mäßig: Die Zahl der Lehrverträge im Südwesten ist erneut zurückgegangen. Die Firmen rekrutieren deshalb verstärkt aus dem Ausland.

Stuttgart - António José Pinheiro Azevedo und Renato Filipe Torres Carvalho sind zwei von mehreren Zehntausend jungen Menschen in Baden-Württemberg, für die am Montag das Berufsleben begonnen hat. Die beiden jungen Männer werden im Werk Wiesloch-Walldorf der Heidelberger Druckmaschinen AG zum Medientechnologen Druck beziehungsweise zum Mechatroniker ausgebildet. Anders als die übrigen rund 100 neuen Azubis des Unternehmens sowie die große Mehrheit aller Auszubildenden im Südwesten starten die beiden Portugiesen fernab ihrer Heimat in den neuen Lebensabschnitt.

 

Über ein Modellprojekt der Stadt Wiesloch mit ihrer 1600 Kilometer südwestlich gelegenen Partnergemeinde, der portugiesischen Kleinstadt Amarante, erhalten sie eine qualifizierte Ausbildung. Dadurch haben sie eine bessere berufliche Perspektive als viele ihrer Altersgenossen in der von hoher Jugendarbeitslosigkeit geprägten Region Nordportugal. Auf die fremde Umgebung und die neue Sprache haben sich Pinheiro Azevedo und Torres Carvalho bereits seit Mitte Juni in Wiesloch vorbereitet: Ihre Arbeitswochen bestanden aus zwei Tagen Praktikum im Unternehmen und drei Tagen Intensivkurs Deutsch. Zur Unterstützung bekamen sie portugiesische Muttersprachler als Paten an die Seite gestellt. „Für uns als größten Arbeitgeber der Stadt war es selbstverständlich, dass wir bei diesem Projekt mitmachen“, betont der Ausbildungsleiter Werner Bader.

Potenzial für ausländische Jugendliche

Die beiden Portugiesen sind ein Beispiel dafür, wie die Ausbildungsbetriebe im Land ihren Bedarf an qualifiziertem Personal in Zukunft decken könnten – im Bereich der Lehre, aber vor allem im Anschluss daran. Nach den Worten von Andreas Richter, dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart, macht der Teil ausländischer Lehrlinge bislang allerdings noch einen geringen Teil am hiesigen Ausbildungsmarkt aus. Richter schätzt die Zahl der ausländischen Azubis in Modellprojekten wie dem beschriebenen derzeit auf 40 in der Region Stuttgart und 150 in ganz Baden-Württemberg. Eine Umfrage der zwölf baden-württembergischen IHKs habe ein Potenzial von 250 für die Region und bis zu 600 für das Land ergeben. Allerdings, so warnt Richter, müssten die  Jugendlichen in der Fremde umfangreiche Unterstützung erhalten; schließlich sei ein solcher Schritt besonders für junge Menschen nicht leicht: „Die Auszubildenden und auch ihre Eltern dürfen nicht das Gefühl haben, dabei draufzuzahlen.“

Im Bereich der Industrie- und Handelskammern hatten zum Stichtag 1. September insgesamt 39 800 junge Menschen im Land einen Lehrvertrag in der Tasche. Das waren rund 740 Verträge oder zwei Prozent weniger als zum gleichen Zeitpunkt 2013. Hinzu kommen noch die Auszubildenden des Handwerks; im August waren dort 13 000 Jugendliche mit Anstellungsvertrag gemeldet (minus drei Prozent). Zu den Azubis in den freien Berufen lagen am Montag noch keine aktuellen Zahlen vor.

Hohe Abbrecherquoten

Branchenübergreifend hat die Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit für Ende August 18 340 unbesetzte Lehrstellen gezählt. Bis Anfang Februar 2015 könnten diese noch mit Auszubildenden besetzt werden, hat Christian Rauch, der Arbeitsagentur-Chef im Südwesten, erst kürzlich erklärt. Im vergangenen Jahr habe sich die Zahl der offenen Stellen bereits im September deutlich verringert. Rauchs oberstes Priorität ist, die Lehrlinge in der Berufsausbildung zu halten. Momentan breche jeder Fünfte im Südwesten seine Lehre ab, bundesweit sei es sogar jeder Vierte.

Die jungen Arbeitnehmer im Betrieb zu halten ist eine Herausforderung für die Ausbildungsbetriebe. Doch zuerst einmal müssen die Lehrlinge gefunden werden. Dabei steht vor allem der anhaltende Trend im Weg, dass die meisten Abiturienten in die Hochschulen drängen, anstatt sich ernsthaft mit der Alternative einer dualen Berufsausbildung auseinanderzusetzen. Der Landeshandwerkspräsident Joachim Möhrle fand am Montag deutliche Worte. Ein Blick auf die hohe Anzahl von Sitzenbleibern im Land mache eines deutlich: „Gymnasium macht nicht immer glücklich.“ Denjenigen, die sich auch in den kommenden Wochen noch zu einer Ausbildung in einem Handwerksbetrieb entschließen, bescheinigte Möhrle beste Zukunftsaussichten: „Unser Land benötigt nicht nur Akademiker, sondern dringend auch qualifizierte und gut bezahlte Fachkräfte.“ Im Gegensatz zum landesweiten Rückgang verzeichnet das Handwerk in der Region Stuttgart einen Anstieg der geschlossenen Ausbildungsverträge um 7,5 Prozent auf 3500. „Das lässt darauf schließen, dass die Betriebe alles dafür tun, um das Problem des Fachkräftemangels in den Griff zu bekommen“, sagte Bernd Stockburger, Geschäftsführer bei der Handwerkskammer Region Stuttgart. „Dennoch warten in unserer Lehrstellenbörse noch fast 900 Plätze auf Jugendliche, die eine berufliche Ausbildung anderen Schulformen vorziehen.“

Chancen für Jugendliche mit Lernschwächen

Die IHKs im Land erwarten, dass in diesem Jahr 6000 Lehrstellen unbesetzt bleiben. Der Mangel an Bewerbern stelle viele Unternehmen vor Probleme, sagte der Hauptgeschäftsführer Richter. Die Lage werde sich durch die sinkende Zahl der Schulabgänger weiter verschärfen: „Fehlende Auszubildende von heute sind fehlende Fachkräfte von morgen.“ Viele Betriebe würden daher ihre Aktivitäten im Bereich des Ausbildungsmarketings verstärken und auch Lernschwächeren eine Chance geben.

Eine IHK-Umfrage in den Betrieben sieht Defizite im mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögen als häufigste Ursache für fehlende Ausbildungsreife. Danach folgen mangelnde Leistungsbereitschaft, Disziplin, elementare Rechenkenntnisse und Belastbarkeit. IHK-Chef Richter berichtet von Azubis im Hotel- und Gaststättengewerbe, die an den ersten Tagen vom Ausbilder nach fünf Stunden nach Hause geschickt werden, weil sie nicht in der Lage seien, längere Zeit im Stehen zu arbeiten.

Ein Weg für Jugendliche, die noch nicht ausreichend für eine Lehre qualifiziert sind, kann das sechs- bis zwölfmonatige Praktikum zur Einstiegsqualifizierung (EQ) sein. Dabei werden unter anderem schulische Defizite behoben. In diesem Jahr werden rund 1400 EQ-Praktika von den Unternehmen angeboten. Zuletzt lag die Übernahmequote in ein reguläres Ausbildungsverhältnis bei 65 Prozent.