Seit der Finanzkrise von 2008 gibt es in jeder zweiten Industrienation mehr arme Kinder als zuvor. Das hat eine Unicef-Studie herausgefunden. Rezession und Sparpolitik trafen Familien weltweit hart. Nur wenige Regierungen steuerten dem entgegen.

Stuttgart - Der große Knall war damals im September 2008 die Pleite der Investmentbank „Lehman Brother’s“ in den USA. Spätestens von da an sprachen alle von der weltweiten Finanzkrise und ihrer Abwärtsspirale von Wirtschaftsflaute und Sparpolitik. „Kinder der Rezession“ hat das Kinderhilfswerk Unicef nun eine am Dienstag vorgestellte Studie genannt, die untersucht, wie dramatisch sich die Lage von Kindern und Jugendlichen wegen der Krise in der angeblich „reichen“ Hemisphäre zugespitzt hat. Untersucht worden sind 41 Staaten der Europäischen Union sowie eines anderen Clubs eher wohlhabender Länder, der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).

 

In 23 der 41 untersuchten Länder ist die Kinderarmut angestiegen, wobei Familienarmut vermutlich der passendere Begriff wäre, da die Autoren der Studie sich am Einkommen der Eltern orientieren. Die Armutsschwelle legen sie bei 60 Prozent der Durchschnittseinkommen fest. Besonders betroffen von Kinderarmut sind Irland, Kroatien, Estland, Griechenland und Island mit Steigerungsraten um über 50 Prozent. Aber es gibt eine Gruppe von 18 Ländern – darunter Australien, Chile und Polen – die sich aus dem Klammergriff befreiten: Dort ist in den letzten sechs Jahren die Kinderarmut sogar gesunken.

Beihilfen für Familien und „Back-to-School-Bonus“

Einige Regierungen steuerten gegen den Trend des allgemeinen Sparens und schufen ein soziales Netz für die jüngere Generation: Chile beispielsweise mit der Bewilligung von höheren Familienzuschüssen im Jahr 2009 und mit Bargeldhilfen für Familien in extremer Armut. Das von der Rezession ebenfalls stark getroffene Australien zahlte Familien mit nur einem Ernährer eine Beihilfe und gewährte für Kinder einen Bargeldzuschuss, den „Back-to-School-Bonus“. Für die Autoren der Unicef-Studie um Gonzalo Fanjul und Rick Boychuk ist dies der richtige Weg, um Familien zu helfen und gleichzeitig die Wirtschaft durch die Stärkung der Kaufkraft zu stimulieren: „Anders als die meisten Länder hat Australien es geschafft, seine Familien zu schützen. Und dies war Teil seines Programms zur Erholung der Wirtschaft.“

Global gesehen sind diese Beispiele hingegen eher Einzelfälle, denn der Druck der Finanzmärkte zwang die meisten Länder zu Haushaltskürzungen und zu Einsparungen in der Kinder- und Familienhilfe. „Viele der reichen Länder haben bei den Haushaltseinkommen eine Rolle rückwärts gemacht. Die negativen Folgen für die Kinder werden lange anhalten“, sagt Jeffrey O’Malley, der Chef der Politikabteilung von Unicef. So ist in Griechenland 2012 das durchschnittliche Einkommen von Familien mit Kindern auf ein Niveau von 1998 gesunken – ein Fortschrittsverlust von 14 Jahren. In Irland, Luxemburg und Spanien machte der finanzielle Rückschlag ein Jahrzehnt aus, in Italien, Ungarn und Portugal acht Jahre. Auch der Lebensstandard und der materielle Besitz von Familien – neun Dinge werden als Parameter genommen, darunter Urlaubmachen, Telefon, Waschmaschine, Fernsehen, ein Auto – ist seit 2008 klar zurückgegangen. Betroffen vom Besitzstandsschwund sind zwei Drittel aller EU-Staaten, am stärksten Zypern, Griechenland und Ungarn. Wie ein roter Faden zieht sich Griechenland als der große Verlierer durch alle Statistiken.

Kinder leiden mit

Ein Symptom für Armut sind beispielsweise Einschränkungen beim Essen: Die Studie fand heraus, dass sich die Zahl der Familien, die sich nach 2008 nicht mehr an jedem zweiten Tag eine Fleisch- oder Fischmahlzeit leisten konnten, in Estland, Griechenland Island und Italien verdoppelte. „Kinder sind ängstlich und fühlen sich gestresst, wenn sie merken, dass ihre Eltern den Job verloren haben oder weniger Geld besitzen. Sie leiden mit“, heißt es im Bericht. „Gab es Zeiten in den letzten zwölf Monaten, in denen Sie nicht genug Geld zum Essen für die Familie hatten? Erfahren Sie täglich Stress?“ Ein hoher Prozentsatz der Griechen, Zyprioten, Türken und Irländer hat diese Fragen bejaht. Am spürbarsten auch für Kinder ist der Verlust der Wohnung. In Spanien sei es von 2008 bis 2012 zu 244 000 Zwangsräumungen gekommen, sagt die Studie, in Griechenland seien noch 2013 rund 60 000 Hausbesitzer von der Zwangsversteigerung bedroht gewesen. Aber die Zahlen in den USA stellen alles in den Schatten: Seit 2008 sollen dort 13 Millionen Zwangsversteigerungen beantragt worden sein.

In den 41 untersuchten Ländern ist mit Beginn der Rezession die Zahl der Kinder in Armut um 2,6 Millionen auf 76,5 Millionen gestiegen. Eine Generation werde da ins Abseits gedrängt, sagen die Unicef-Autoren. Denn die Armut setzt sich in der Jugend fort, und dort ist das Bild erschreckend, wie eine Statistik über „Drop outs“ verrät – das sind junge Leute im Alter von 15 bis 24 Jahren, die weder in der Schule sind, noch einen Ausbildungsplatz oder einen Job haben. In Griechenland hat sich ihre Zahl auf fast 21 Prozent verdoppelt, aber auch EU-Länder wie Kroatien, Zypern und Italien sind von Steigerungsraten über 30 Prozent betroffen. In der EU stehen rund 7,5 Millionen junge Leute ohne Beschäftigung da, das entspricht ungefähr der Bevölkerung der Schweiz und ist eine Million mehr als zu Beginn der Krise. Bei den nicht-europäischen Ländern sind es die USA und Australien, die den stärksten Anstieg bei jungen Leuten haben, die nichts zu tun haben.

„Deutschland ist ganz gut durch die Krise gekommen“

Deutschland wird in der Studie als durchschnittlich positiv gewertet. Die Zahl der „Drop outs“ und jungen Arbeitslosen ist leicht gesunken, die Kinderarmut stagniert. „Deutschland ist ganz gut durch die Krise gekommen“, sagt der Mainzer Familiensoziologe Steffen Kohl, der oft mit Unicef zusammenarbeitet. „Ich halte es dennoch für hochproblematisch, dass in unserem reichen Land 15 Prozent aller Kinder von Armut betroffen sind.“ Jeffrey O’Malley von Unicef richtet seinen Appell an alle Nationen: „Der Umfang sozialpolitischer Maßnahmen ist der entscheidende Faktor für die Armutsvorbeugung. Das zeigt unsere Studie.“ Alle Staaten brauchten „starke soziale Netze, um Kinder in guten wie in schlechten Zeiten zu schützen“.

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„Armes Amerika“ von Damir Fras

Jomar Reyes war eines von Millionen amerikanischen Kindern, die in Armut aufgewachsen sind – und das in einem der reichsten Länder der Welt. Er hatte kein Bett und keine Wohnung. Seine Mutter Yury Reyes hatte mit ihren 24 Jahren immer noch keine Arbeit gefunden und zog von Verwandten zu Verwandten. Jomar war ein „Kind der Rezession“, wie es das UN-Hilfswerk Unicef jetzt in einem Bericht über die Folgen der weltweiten Finanzkrise auf die heranwachsende Generation genannt hat.

Die Zahlen sind dramatisch. In 34 der 50 US-Bundesstaaten ist die Kinderarmut demnach seit Beginn der Krise im Jahr 2008 gestiegen. Ende 2012 lebten 24,2 Millionen Kinder in Armut. Das waren 1,7 Millionen mehr als 2008. Die offiziellen Zahlen der US-Behörden fallen wegen anderer Berechnungsgrundlagen etwas geringer aus. Demnach waren im vergangenen Jahr noch 20 Prozent der Kinder in den USA in der Armut gefangen – ein Rückgang von zwei Prozentpunkten gegenüber 2012. Aber es bleiben Millionen von Kindern, die in prekären Verhältnissen leben müssen.

200 Milliarden US-Dollar für Unterstützungsprogramme

Wie Unicef feststellt, ist die Kinderarmut in den USA sogar deutlich stärker gestiegen als während der letzten Rezession vor mehr als 30 Jahren. Zwar hat die US-Regierung im Jahr 2009 insgesamt circa 200 Milliarden US-Dollar für Unterstützungsprogramme bereitgestellt. Doch davon profitieren in den USA traditionell eher Geringverdiener mit einem oder mehreren Jobs als die Arbeitslosen.

So ist es einige Jahre lang Yury Reyes und ihrem Sohn ergangen, bis sie überraschend einen Job als Assistentin in einer Schule in Washington bekam – und Jomar endlich ein Bett.

„In Kroatien ist jedes fünfte Kind unter sechs Jahren arm“ von Thomas Roser

Die südeuropäischen Länder schneiden in der Studie über Kinderarmut relativ schlecht ab: beispielsweise Kroatien. Seit sechs Jahren dümpelt der EU-Neuling in der Rezession. In der Zeit habe das Land einen „dramatischen Anstieg der Armut“ erlebt, die die hilflosesten Mitglieder der Gesellschaft am härtesten treffe – die Kinder, warnt Staatschef Ivo Josipovic: „Sie sind Kroatiens Zukunft und Gegenwart und haben ein Recht auf eine gesunde Ernährung, adäquate Gesundheitsvorsorge, auf Spielen und Freizeit – mit einem Wort: auf eine glückliche Kindheit.“

Die Realität sieht für viele Kinder in dem wirtschaftlich angeschlagenen Küstenstaat anders aus. Jedes fünfte Kind unter sechs Jahren lebt in Kroatien unter der Armutsgrenze – fast zwei Drittel davon auf dem Land. 40 Prozent von ihnen ist selbst jeden zweiten Tag weder eine Fleisch- noch Fischbeilage zum Essen vergönnt. Fast die Hälfte der in Armut lebenden Kleinkinder verfügt über kein eigenes Bett. Ein Drittel muss auf einen Kinderarzt in der Nähe verzichten.

Fast jeder zweite Jugendliche ist ohne Job

Die wegen der Krise sinkenden Steuereinnahmen haben zu harten Sparmaßnahmen geführt: Die Kassen der Kommunen sind leer, der Betrieb von Kindergärten wird schwieriger, es gelingt immer weniger, arme Familien bei der Versorgung der Kinder zu unterstützen. Die Krise dürfe das Leben der Kinder „nicht in den Wartesaal stellen“, mahnt die Unicef-Vertreterin Valentina Otmacic in Zagreb. Doch die Zukunft sieht nicht nur für Kinder aus sozial schwachen Familien düster aus. Fast jeder zweite Jugendliche ist ohne Job: Nach Griechenland und Spanien weist das Land die höchste Jugendarbeitslosigkeit in der EU auf.