Das Leben ist hart für die Tunnelspezialisten bei Stuttgart 21. Der Container ist ihr Zuhause.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Unter Günter Laggners Füßen türmen sich große Gesteinsbrocken. Der 46-Jährige muss darauf achten, wie er seine Schritte setzt. Schließlich steht Laggner dort, wo bis vor Kurzem noch gar niemand hat stehen können, denn dort war bis zur Detonation genau kalkulierter Sprengstoffmengen massiver Fels. Der Kärntner baut am Cannstatter Tunnel mit, der im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 einmal den Stadtbezirk am Neckar mit dem Bahnhof in der Innenstadt verbinden soll. Die jüngste Sprengung liegt kaum eine halbe Stunde zurück, Laggner und ein Kollege sind zunächst damit beschäftigt, die Kabel für die Beleuchtung der unterirdischen Baustelle dem neuen Vortriebsstand anzupassen. Derweil macht sich ein Dritter in einem riesigen Radlader sitzend daran, die Felstrümmer wegzuräumen.

 

Denkbar ungünstige Bedingungen für ein Gespräch. Aber Laggner ist solches Agieren zwischen Tür und Angel gewohnt. Der 46-Jährige, der seit 20 Jahren unter Tage arbeitet, gehört zu den 120 Mineuren, Schlossern, Elektrikern und Maschinenmeistern, die in einem dicht gedrängt stehenden Containerdorf im Inneren Nordbahnhof wohnen. 15 Quadratmeter stehen ihm dort zur Verfügung, die er immerhin alleine bewohnt. „Alles andere wäre auch nicht zumutbar“, reagiert Laggners Chef Günther Weilharter schon fast überrascht auf die Frage, ob sich womöglich zwei Kollegen einen Wohncontainer teilen müssen. „Ein Mindestmaß an Privatsphäre muss schon sein“, sagt Weilharter und ist sehr reserviert, als es darum geht, über Tage mal einen Blick in die Unterkünfte zu werfen. Der 57-Jährige öffnet dann doch die Tür zum langen Flur. Rechts geht es zu den Sanitäranlagen, die sich immer sechs Mann teilen, links in eine improvisierte Küche. Daran schließen sich die Schlafcontainer an. Gesprochen wird im Gang nur im Flüsterton. Hinter den Metalltüren schlafen die Mineure.

Zwölf Stunden Arbeit, zwölf Stunden Pause

Zwölf Stunden haben die Arbeiter Zeit für die Erholung, ehe sich eine ebenso lange Schicht anschließt. Gewechselt wird jeweils um 6 und um 18 Uhr. Von den zwölf Stunden unter Tage werden zehn gearbeitet, zwei sind Pausenzeiten. Die nimmt aber nie die ganze Mannschaft, im Mineursjargon „das Drittel“, gemeinsam wahr, denn der Tunnelbau darf niemals stehen und muss immer weitergehen.

Zehn Tage am Stück wird gearbeitet, dann folgen fünf freie Tage am Stück. Laggner und seine Kollegen packen dann ihre Siebensachen und lassen das Containerdorf am Nordbahnhof hinter sich. 500 Kilometer fährt Laggner, bis er wieder daheim ist. „Da muss natürlich das Zuhause mitspielen“, sagt er. Seit drei Jahren schon pendelt er nun zwischen Kärnten und der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Von der hat er noch nicht viel gesehen, wie er freimütig einräumt. „Was willst auch anschauen nach zwölf Stunden Arbeit?“, fragt er zurück. In den Containern gibt es Satelliten-Fernsehempfang. Für etwas Abwechslung – zumindest in der warmen Jahreszeit – haben sich die Nomaden vom Nordbahnhof an den Rand ihrer Containerbehausung einen Biergarten mit Hütte gezimmert. „Käfer-Stüble“ haben sie die ambulante Kneipe getauft, als kleine Hommage an die Artenschutzprobleme, die den Bau von Stuttgart 21 immer wieder ausbremsen.

Während Günter Laggner und Kollegen sich weiter in Richtung Innenstadt sprengen und graben, erzählt über Tage Günther Weilharter aus dem Leben eines Tunnelbauers. „Ich bin ja fast ein halber Deutscher“, sagt der Steirer. Seit 23 Jahren steht er in Diensten des Baukonzerns Hochtief. Der gehört mittlerweile mehrheitlich einer spanischen Gruppe, an deren Spitze Florentino Pérez Rodríguez steht – der auch Präsident von Real Madrid ist. „Also ist der Ronaldo doch mein Kollege“, schlussfolgert Weilharter und lacht. Kaum vorstellbar, dass sich der grazil aufspielende Fußballkünstler in der rauen Welt der Tunnelbauer zurechtfinden würde.

Österreicher sind weltweit als Tunnelbauer gerfagt

Für Weilharter gibt es hingegen keine andere Welt. „Tunnelbauen ist wie Grippe. Wenn du den Virus hast, kriegst du ihn auch nicht mehr los.“ Den 57-Jährigen hat diese Krankheit schon weit herumkommen lassen. Vom Nahen Osten bis nach Norwegen war er schon im Einsatz. Und Stuttgart ist für ihn schon fast wie eine zweite Heimat geworden. Der Cannstatter Tunnel ist die achte große Baustelle, auf der er in der Region arbeitet. Er war dabei, als sie die S-Bahngleise unter dem Hasenberg hindurch hinauf nach Vaihingen gelegt haben, hat am Flughafen auf den Fildern Versorgungskanäle gebaut und die Stadtbahntunnel nach Degerloch, auf den Killesberg und unter dem Botnanger Sattel vorangetrieben. Als Bauleiter ist er nicht mehr ganz so oft unter Tage, wie er es eigentlich gerne hätte; im Gegenzug findet er aber nach Feierabend auch noch Zeit und Kraft aufs Fahrrad zu sitzen. Weilharter hat auf diese Weise den Kräherwald erkundet, ist bis zum Schloss Solitude und dem Bärenschlössle vorgedrungen. „Da kann man sich den Kopf frei treten“, sagt er. Offenkundig ist er mit dieser Taktik nicht allein. Der überdachte Fahrradabstellplatz im Containerdorf ist ziemlich gut gefüllt.

Zunehmend sind Osteuropäer am Werk

Die Wohnunterkünfte, die nun in Stuttgart aufeinandergestapelt stehen, waren zuvor am Gotthard-Basistunnel im Einsatz. Doch auch bei den Eidgenossen haben bevorzugt Österreicher zu den Bewohnern gezählt. Die Männer aus der Alpenrepublik sind weltweit als Tunnelbauer gefragt. Das macht sie zu Nomaden. Dieses unstete Leben, die harte Arbeit und die Höhe der Entlohnung, die nach Weilharters Worten schon mal besser gewesen ist, führt zu Nachwuchsproblemen in der Branche. Die zwei Söhne von Weilharter haben sich nicht für die Profession des Vaters erwärmen können. Der zweifache Vater und dreifache Großvater nimmt’s mit einem Achselzucken hin. Auch der restliche österreichische Nachwuchs ist eher zurückhaltend, wenn es darum geht, fern der Heimat unter Tage neue Verkehrswege zu bahnen. In die Lücke springen zunehmend Firmen aus Osteuropa. Am Cannstatter Tunnel sind Subunternehmer aus Ungarn und Polen am Werk. „Denen bringen wir bei, was wir alles draufhaben, und am Ende sind sie günstiger“, beschreibt Weilharter das Dilemma.

Derweil ist Günter Laggner unter Tage schon wieder voll in seinem Element. Der Tunnelbau muss weitergehen. Langweilig werde es trotz der immer gleichen Arbeitsabläufe nicht, beteuert er. An diesem Tag sind er und seine Kollegen vielleicht sogar noch ein bisschen motivierter. Tags zuvor haben sie den ersten Durchschlag unter dem Kriegsberg gefeiert, nun steht die Weihnachtspause an. Bis nach Neujahr oder gar Dreikönig ruht der Betrieb. Dann kehren Laggner und Co wieder zurück, um sich dorthin zu graben, wo vor ihnen noch keine Mensch gestanden hat.