Wie in anderen Städten Deutschlands haben auch in Stuttgart die Türken mehrheitlich für Erdogans Pläne gestimmt. Wir haben uns in Stuttgart umgehört, was die Deutsch-Türken zu dem Ergebnis sagen.

Lokales: Mathias Bury (ury)

- Stuttgart - Auf einem der verkehrsbeschränkenden Warnschilder an der Mauserstraße in Stuttgarts Vorort Feuerbach hängen gleich drei „Evet“-Aufkleber und werben für ein Ja bei der Volksabstimmung in der Türkei. Viel mehr allerdings erinnert in dem „Klein-Instanbul“ genannten Viertel nicht an den auch hierzulande hitzig geführten Wahlkampf zu Erdogans Referendum. Es ist ausgesprochen ruhig hier.

 

„Das Volk hat entschieden, das zählt“, sagt ein 29-jähriger Deutschtürke aus Bad Cannstatt. Auch wenn er mit Nein gestimmt hat, ist für ihn das Thema jetzt abgehakt. „Das ist doch wie im Fußball: Am Schluss hat eine Mannschaft gewonnen – selbst wenn es durch ein Abseitstor war“, sagt der 29-Jährige lachend. Ähnlich nüchtern sehen es viele Anwohner hier an diesem kühlen Ostermontagmorgen. Im Bezirk Stuttgart – dort also, wo alle Deutschtürken in Württemberg abgestimmt haben – stimmten sogar 66,3 Prozent für Erdogans Verfassungsreform.

Viele Anhänger Erdogans in Württemberg

Osman Gürel findet das gut. „Man muss mal etwas Neues wagen“, sagt der 46-Jährige, der in Neckarsulm ein Ingenieurbüro hat. In Ländern wie der Türkei brauche es einen „starken Mann, der entscheiden kann“, sagt er, das sei mit Deutschland nicht vergleichbar. Gürel hat nicht gewählt, denn er hat nur einen deutschen Pass. Der 46-Jährige ist überzeugt, dass sich der Streit in der türkischen Community hierzulande bald legt. Geärgert hat ihn, der sich selbst als „Musterdeutschen“ bezeichnet, dass die Befürworter der Verfassungsänderung „als dumm hingestellt wurden“.

Reaktion auf Diskriminierung

Die Motive im Ja-Lager sind unterschiedlich. Ein 17-jähriger Deutschtürke aus Bad Cannstatt, der Erdogans Politik gut findet, beschreibt seine Gefühlslage: In den vergangenen Wochen habe man den Eindruck gehabt, dass die Deutschen „gegen die Türken sind“. Dieses Gefühl habe er schon seit Längerem, sagt der junge Deutschtürke, der in einem Malerbetrieb arbeitet. Manche Leute seien offen „türkeifeindlich – zum Teil gibt es noch richtige Nazis“.

Taylan Özdemir sieht in dem Ergebnis eine „Trotzreaktion“ auch gegen die in Deutschland vorherrschende Ablehnung der Verfassungsreform in der Türkei. Der 43 Jahre alte Unternehmer, der nur einen deutschen Pass hat, sieht das Nein-Lager „strukturell im Nachteil“. Viele, die die Dinge „neutral sehen“, hätten wie er ihren alten Pass abgegeben. Taylan Özdemir glaubt aber , dass sich die gereizte Stimmung in der türkischen Community normalisieren wird: „Die kommen alle wieder runter.“

Kritik an „einseitigem Wahlkampf“

Auch ein 36 Jahre alter Jeside, der nur einen deutschen Pass hat und die Unterdrückung seiner Glaubensbrüder in der Türkei beklagt, erzählt von guten Kontakten zu den türkischen Kollegen. „Politik und Kultur sind zwei Paar Stiefel.“ Ein bei der Polizei gemeldeter Jubelcorso der Erdogan-Anhänger jedenfalls wurde in Feuerbach mangels Teilnehmern wieder abgeblasen.

Gökay Sofuoglu, Landesvorsitzender der Türkischen Gemeinde Baden-Württembergs und einer der Exponenten des Nein-Lagers, beklagt den „einseitigen Wahlkampf“, den der türkische Präsident geführt habe. Er sieht das Ergebnis des Referendums aber auch als eine Folge von Diskriminierung und Rassismus im deutschen Alltag. Statt sich um dieses Problem zu kümmern, so die Meinung vieler Deutschtürken, mischten sich die Deutschen in den türkischen Wahlkampf ein. „Erdogan hat die Europäer in die Falle gelockt und sie zum Feindbild gemacht“, sagt Sofuoglu über die erfolgreiche Strategie des türkischen Präsidenten.