Sie verfolgen das Purpurweiden-Jungfernkind, sehnen sich nach dem Fleckenbär und freuen sich über eine Rindeneule: Die Arbeit von Schmetterlingsforschern mag ungewöhnlich erscheinen – doch es gibt wenig, das wichtiger ist.

Region: Verena Mayer (ena)

Gernsbach - Das Hohlohseegebiet ist nicht der Himalaja. Gott, was hat Robert Trusch dort schon für beeindruckende Schmetterlinge zu Gesicht bekommen. Schwalbenschwänze groß wie Vögel. Unerreichbar schwebten sie in der Luft. Auch mit dem Iran ist das Hohlohmoor nicht zu vergleichen. Unglaubliche Exemplare sind Trusch dort schon in seinen Kescher gegangen. Der Dyscia leucogrammaria zum Beispiel. So selten ist der, dass es keinen deutschen Namen für ihn gibt. Und jetzt der Nordschwarzwald, bei Nacht. Nicht einmal Robert Trusch, der für die Schmetterlingssammlung im Karlsruher Naturkundemuseum verantwortlich ist, erwartet eine besondere Ausbeute. Ein paar Moorspezialisten halt. Die Primel-Erdeule vielleicht, womöglich auch den Möndchenflecken-Bindenspanner und vielleicht, wenn es nicht schlecht läuft, sogar die Mittelgebirgs-Bodeneule. „Lassen wir uns überraschen“, sagt Robert Trusch und schmeißt den Generator an.

 

Es ist kurz vor zehn Uhr, die Dunkelheit hat den Schwarzwald noch schwärzer gemacht. Gäbe es nicht das hölzerne Geländer, das den schmalen Bohlenweg begrenzt, man müsste sehr gut achtgeben, um nicht in den Sumpf zu stiefeln, der direkt daneben beginnt. Auch Schmetterlingsforscher können in dieser Finsternis keine Schmetterlinge erforschen. Deshalb der Generator. Er bringt die Lampen zum ultravioletten Leuchten, mit dem die Nachtfalter angelockt werden. Könnten die Tiere sehen wie Menschen, würden sie in dieser Nacht in diesem Moor eine fast romantische Szenerie erblicken. Eine Lichtsäule in der Schwärze der Nacht, umstanden von Männern und Frauen, die Stirnlampen auf dem Kopf tragen und Fotoapparate oder dicke Bücher in der Hand. Dazu das Brummen des Generators, ab und zu ruft einer „Oh, da ist was Gutes“, und, wenn man ganz genau aufpasst, ist das sachte Schlagen von Falterflügeln zu hören. Fünf Stunden dauert diese nächtliche Exkursion, die Fachleute wie Robert Trusch Lichtfang nennen. Nebenbei: Fachleute, die sich mit Schmetterlingen befassen, werden Lepidopterologen genannt. Am Ende dieses Lichtfangs im Moor, das kann man schon verraten, wird der Lepidopterologe Robert Trusch begeistert sein. Allerdings, auch das muss man dazu sagen, ist es eine relative Begeisterung.

Von Muhammad Ali heißt es, er habe in seinen besten Zeiten geboxt wie ein Schmetterling. Leichtfüßig, schwebend. Verliebte, sagt man, hätten Schmetterlinge im Bauch. Des flüchtigen Kribbelns wegen. Und ist es nicht faszinierend, dass sich allein bei der Lektüre von Herders Lied vom Schmetterling ein Gefühl von Entrücktheit einstellt? Nicht-Lepidopterologen erkennen womöglich den Hauhechel-Bläuling, der so schön blau ist, zumindest das Männchen. Oder den Aurorafalter, der in der Sonne fast durchsichtig schimmert. Vielleicht kommt einem auch das Kleine Wiesenvögelchen in den Sinn, das, lässt es sich auf einem nieder, fast nicht zu spüren ist.

An wen beim Wort Schmetterling vermutlich kein Nicht-Lepidopterologe denkt, ist das Taubenschwänzchen, das Esparsetten-Widderchen oder der Schönbär. Die Nachtfalter, zu deren Familie sie gehören, fristen, verglichen mit den Tagfaltern, ein Schattendasein. Was sehr ungerecht ist. Mit mehr als 90 Prozent stellen die Nachtfalter die riesige Mehrheit der heimischen Schmetterlingsarten. Es ist, das kann an dieser Stelle angemerkt werden, auch keineswegs angemessen, Nachtfalter schrecklich verallgemeinernd als Motten abzutun. Nicht mal dann, wenn sie millionenfach durch ein Fußballstadion fliegen, in dem ein EM-Endspiel stattfindet. Was in Saint-Denis in jener Julinacht Sportler, Kameraleute und Zuschauer irritierte, sind Gammaeulen gewesen.

Der Kampf mit den Mücken

Noch ungemütlicher als der fast komplett flachfallende Schlaf macht das Beobachten von Nachtfaltern die Heimsuchung der Schnaken. Lange bevor die ersten Spinner und Spanner, Schwärmer und Zünsler, Wickler und Motten aus dem Dunkel auftauchen, erklingt das Sirren der Mücken. Profis wie die Beobachter im Hohlohseegebiet reiben sich rechtzeitig mit einem Schutzmittel ein. „Wenn wir schöne Schmetterlinge sehen wollen, müssen wir die Mücken ertragen“, sagt Robert Trusch.

Aus der Sicht eines Mannes, der bereits im Alter von elf Jahren dem Admiral und der Hausmutter hinterhergehüpft ist, hat mutmaßlich jeder Schmetterling etwas Wunderschönes. Auf 981 Metern ist ein schönes Exemplar die Oligia fasciuncula marmorata, besser bekannt als Moorwiesen-Halmeulchen. Auf dem Boden sitzend und mit an den Körper gepressten Flügeln hat es die Gestalt eines Mini-Ritters in bodenlangem Umhang, in fliegendem Zustand kommt es auf eine Breite von etwa 22 Millimetern. Wie sein Name verrät, frisst es an Halmen. Allerdings nur nachts, tagsüber verbirgt es sich zwischen Kräutern und Gräsern. Was das Eulchen im Hohlohseegebiet besonders macht, ist seine einzigartige Optik. So dunkel und kontrastreich ist es nur im Nordschwarzwald zu sehen. „Da kann man der Evolution über die Schulter schauen“, sagt Robert Trusch, pflückt den gelbgrauen Falter von dem feinen Netz, das um die UV-Leuchten gewickelt ist, und packt ihn in einen Becher. Er kommt mit nach Karlsruhe in die Sammlung, die bereits 2,4 Millionen Exponate umfasst.

Im zauberhaften Märchen vom Schmetterling, das der fabelhafte Hans Christian Andersen verfasst hat, kommt der flatterhafte Protagonist zu der Erkenntnis: „Leben allein genügt nicht. Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume muss man auch haben.“ Den geschilderten Umständen zufolge, handelt es sich bei Andersens Schmetterling um einen Tagfalter. Doch im Großen und Ganzen gilt für einen Nachtfalter, der sich von seinen Taggenossen vornehmlich in der Form seiner Fühler unterscheidet, dasselbe: Er braucht Nektar und Liebe. (Es sei denn, es handelt sich um den Kiefernspinner. Der ist ausschließlich unterwegs, um sich zu paaren.)

Die Wunderwesen sind gefährdet

Für die Bestäubung von Blüten gibt es deshalb fast niemand Bedeutenderen als Schmetterlinge. Noch emsiger sind nur die Bienen. Wobei nicht nur Blumen Schmetterlinge über alles lieben. Auch Vögel, Fledermäuse, Spinnen und Käfer haben eine Schwäche für sie. Als Ei, als Raupe oder schließlich als Falter – kein Speiseplan kommt ohne das wandlungsfähige Insekt aus, dessen Dasein damit noch wichtiger wird. Denn keine Art ist empfindsamer. Schmetterlinge reagieren schneller, wenn es ihrer Umwelt schlecht geht. Wo sie verschwinden, ist die Natur in Gefahr.

Viele sind bereits verschwunden. Von den 1170 Arten, die einst in Baden-Württemberg analysiert wurden, steht fast die Hälfte auf der Roten Liste, fünf Prozent sind bereits ausgestorben. Doch wenn der Natur erst mal die Schmetterlinge abhandenkommen, machen sich bald auch viele andere Arten aus dem Staub. Und dann, ja dann, gute Nacht!

Die Klosterfrau, die sich um kurz nach Mitternacht auf einer Birke im Schwarzwaldmoor niederlässt, ist fast nicht zu erkennen. Mit ihrer weiß-schwarzen Musterung sieht sie der Birkenrinde zum Verwechseln ähnlich. Sehr schick diese Tarnung, die Kenner der Panthea coenobita trotzdem durchschauen. „Ich kann mich gar nicht sattsehen an diesen Wunderwesen“, sagt eine ältere Dame und drückt auf den Auslöser ihrer Kamera, und noch einmal und noch einmal. Ein Mann inspiziert die Flügel eines – tja, eines was: eines Noctua janthe (gelbe Flügel mit braunem Band) oder eines Noctua janthine (braune Flügel mit gelbem Punkt)? Eine äußerst diffizile Angelegenheit. Zwei Studentinnen der Biologie beäugen eine Heidelbeer-Stricheule – für Kenner: Hyppa rectilinea. So viel kleiner als eine Handfläche, ungleich leichter als ein Blatt, zigmal fragiler als eine Heidelbeere – und dennoch alles dran, was es zum Leben braucht: Hirn, Herz, Darm. Wie gesagt: Wunderwesen!

Aber: in Gefahr! Ein Kollege von Robert Trusch hat über 25 Jahre hinweg an 87 Standorten in einem Naturschutzgebiet in Nordrhein-Westfalen Insekten gefangen. 1989 wogen der Wissenschaftler und seine Kollegen in jeder ihrer Fallen noch etwa eineinhalb Kilo Biomasse, zuletzt waren es gerade mal noch 300 Gramm. Dass ein solcher Rückgang keine nordrhein-westfälische Spezialität ist, ahnt jeder, der nach einer Fahrt über Land mit der Reinigung einer verklebten Windschutzscheibe befasst war. Ist heute kaum noch nötig. Die Insekten sterben schon vorher. Weil es immer weniger Pflanzen gibt, dafür immer mehr Pestizide. Weil feuchte Wiesen trockengelegt und Äcker immer größer gemacht werden. Weil Landschaften verschwinden und Neubaugebiete entstehen. Wie sollen sich Schmetterlinge und andere Insekten da wohl fühlen, zueinanderfinden, sich vermehren?

Das Licht führt sie in die Irre

Falls jemand meint, den Schmetterlingen ginge es besser, wenn sie nicht von Schmetterlingsforschern erforscht würden: Es gibt auch eine Untersuchung, die ausgerechnet hat, dass die Anzahl der Schmetterlinge, die der Mensch täglich durch sein Menschsein tötet, die Zahl der von allen europäischen Sammlern in einem Jahrhundert gesammelten Exemplare um ein Vielfaches übersteigt. Bei Lichte betrachtet, ist es deshalb nicht so, dass die Gammaeulen das Fußballspiel in Saint-Denis gestört haben. In Wirklichkeit hat das hell erleuchtete Stadion die Falter gestört. Also ihre Orientierung. Nur darum fliegen sie ja zum Licht.

„Ein Schmetterlingsforscher“, sagt der gähnende Robert Trusch irgendwann in dieser Nacht, „braucht Sitzfleisch.“ Ein Jägerhütchen hat er zu diesem Zeitpunkt bereits wieder ziehen lassen (zu gewöhnlich), die ersehnte Moorbunteule noch immer nicht gesichtet (zu ungewöhnlich). Demnächst wird auch noch der Generator aufhören zu brummen. Das Benzin ist alle. Der Schmetterlingsforscher Robert Trusch könnte also auch sagen: „Ein Schmetterlingsforscher braucht von so ziemlich allem eine üppige Menge.“

Mut zum Beispiel. Wie könnte man sich auf der Suche nach einem besonderen Exemplar sonst über eisige Brücken in riesigen Höhen hangeln? So erforderlich voriges Jahr auf einer Expedition in Bhutan. Oder Zuversicht. Warum sonst würde man eine Woche durch Brandenburg streifen, um den seltenen Fleckenbär aufzustöbern? So geschehen dieses Jahr im Frühling, ohne Erfolg leider. Oder Liebe, die ist auch sehr wichtig. Weshalb sonst sollte man einen Wandkalender herausgeben wollen, der die Schönheit der heimischen Nachtfalter zeigt? So geplant für 2017.

Der Weg führt ins Museum

Andererseits – man entdeckt halt wahrscheinlich auch keine neue Schmetterlingsart, wenn man kein Schmetterlingsforscher ist, der von so ziemlich allem eine üppige Menge hat. So geschehen am 17. März des vergangenen Jahres. Da stöbert Robert Trusch mit zwei Kollegen in der südbadischen Oberrheinebene das Purpurweiden-Jungfernkind auf.

Das Purpurweiden-Jungfernkind heißt so, weil sich die Raupen dieses Schmetterlings, anders als die des Birken- oder des Pappel-Jungfernkinds, ausschließlich von der Purpurweide ernähren. Fachleute haben das Purpurweiden-Jungfernkind schon seit dem Beginn dieses Jahrtausends in Deutschland vermutet, bis zu jenem Märztag hat es sich allerdings partout nicht sehen lesen. Tagelang durchschreiten die Forscher das Gelände, lauern an Wasserlöchern oder starren in den Himmel, was beim gleißenden Licht des Vorfrühlings besonders anstrengend ist. Dann, endlich, in vier Meter Höhe geht ihnen das gesuchte Kind ins Netz. Dass der Kescher überhaupt so hoch reicht, liegt daran, dass er mit eilends besorgten Stangen aus einem Wischmopp-Shop verlängert wurde. Robert Trusch, der diese Entdeckung als „vielleicht unser Highlight“ bezeichnet, lacht noch heute, wenn er an den Einkauf im Wischmopp-Shop denkt.

Robert Trusch lacht auch, wenn er einen Nachlass für seine Museumsabteilung in Empfang nehmen darf und die Kollegen reimen: „Sinkt der Gatte dir ins Grab, Robert holt die Sammlung ab.“ Humor zu haben ist als Schmetterlingsforscher also auch nicht schädlich. Galgenhumor sowieso. Seit Jahren beklagen Ökologen den Schwund der Arten – und was passiert? Trusch: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Der Einsatz im Hohloseegebiet endet, als sich am Horizont das erste Tageslicht andeutet. Robert Trusch krabbelt zufrieden in seinen Schlafsack. 94 Arten – ja, darunter auch die Mittelgebirgs-Bodeneule – haben die Lichtfänger sammeln können. Auf so eine Ausbeute hat der Exkursionsleiter nicht zu hoffen gewagt. Sogar die Heidemoor-Rindeneule hat sich am Netz mit den UV-Lampen niedergelassen. Der, um es mit Robert Trusch zu sagen, „geilstmögliche“ Fund.

Über die Heidemoor-Rindeneule – für Lepidopterologen: Acronicta menyanthidis – muss man wissen, dass sie, wenn überhaupt, nur in Hochmooren zu finden ist. Jedoch nicht in jedem. Und wenn, dann extrem selten. Robert Trusch auf jeden Fall hat noch nie ein lebendes Exemplar gesehen. Dass er es im Hohlohseegebiet findet, spricht dafür, dass die Welt hier oben in Ordnung ist. Logisch, leider: wenig Menschen, keine Schadstoffe und keine Insektizide.

Die Heidemoor-Rindeneule hat Robert Trusch selbstverständlich auch eingepackt. Sie muss mit ins Museum. Dort, so unglaublich das klingt, ist sie sicher.