Nach den Anschlägen in Paris wird nach den Ursachen für die Radikalisierung junger Muslime gesucht. Was einen Attentäter zur Waffe greifen lässt, hat oft mehrere Gründe – analysiert Knut Krohn.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Wieso schnallt sich ein Jugendlicher einen Sprengstoffgürtel um die Hüften und jagt sich auf einem Marktplatz in Kabul inmitten einer Menschenmenge in die Luft? Wieso überfallen Männer eine Satirezeitschrift in Paris und ermorden mit dem Ruf „Allah ist groß“ auf den Lippen kaltblütig viele Menschen? Die Täter selbst sehen sich als Freiheitskämpfer, für die Opfer sind sie Terroristen. „Der Staatsterror heißt Freiheit und Demokratie, und der Widerstand heißt Terrorismus und Opposition“, sagte Osama bin Laden im Oktober 2004 in seiner „Botschaft an das amerikanische Volk“, kurz vor der US-Präsidentenwahl.

 

Terror ist also Ansichtssache und je nachdem, welche Interessengruppe eine Definition vornimmt, wird sie anders ausfallen. Aussagen zum Terror stehen unter Ideologieverdacht und sind mit Vorsicht zu genießen. Auch die Abgrenzung zu anderen Gewaltstrategien ist schwierig. Wann wird konventioneller Krieg zu Terrorismus? Und wann sprechen wir von Guerillakampf oder Rebellion? Entsprechend schwierig ist es, aus einem scheinbar undurchdringbaren Gestrüpp von Motivationen die Gründe für Terrorismus herauszuarbeiten. Zudem gibt es nie nur einen einzigen Beweggrund, weshalb Menschen Anschläge verüben. Die Wissenschaft spricht hier von Multikausalität.

Von Nutzen ist es, einen Schritt zurückgehen und zu versuchen, die Rahmenbedingungen zu beschreiben, die das Entstehen von Terrorismus begünstigen. Wegen der großen Aufmerksamkeit, die das Netzwerk Al-Kaida nach den 9/11-Anschlägen auf sich gezogen hat, sind die Strukturen dieses transnationalen Terrorismus von der Forschung relativ genau beschrieben.

Osama bin Laden verdiente auch legal mit Bauunternehmen

Ein grundlegend wichtiger Faktor ist die Finanzierung. Spektakuläre Anschläge zu verüben, kostet viel Geld. Berechnungen zufolge war für die Vorbereitungen der 9/11-Attentate über eine halbe Million Dollar notwendig. Weitaus mehr Geld benötigt der Islamische Staat, um seine inzwischen zur Armee angewachsenen Gefolgsleute zu finanzieren. Zu den Einnahmequellen gehört von Schmuggel über Erpressung bis hin zu Entführungen die gesamte Bandbreite der Kriminalität. Es heißt, dass der Al-Kaida-Führer Osama bin Laden das Geld auch legal mit Bauunternehmungen und Import-Exportgeschäften verdiente.

Ein zweiter Faktor für die Entfaltung des Terrorismus ist, dass ein Staat den Terroristen wenige oder keine Grenzen setzten kann oder will. Wenn also die politische Ordnung wankt, staatliche Dienstleistungen fehlen oder das Gewaltmonopol nicht ausgeübt wird. In diesem Sinne war Afghanistan ein idealer Rückzugs- und Ausbildungsraum für Al-Kaida. Dort gab es eine relativ gute Infrastruktur, doch das Land war beherrscht von Warlords.

Interessant ist, dass die Wissenschaft bisher noch keinen Zusammenhang zwischen der Armut des Einzelnen und Terrorismus erkennen kann. Nachgewiesen wird allerdings eine Verbindung zwischen der Höhe des Bruttosozialprodukts eines Landes und dem terroristischen Potenzial. Man nennt dies das „Robin-Hood-Modell des Terrorismus“. Konkret: der sehr reiche Osama bin Laden wurde durch die Armut seiner Landsleute inspiriert. Auch die 9/11-Attentäter kamen aus dem gebildeten Milieu.

Die Kommunen sind hoffnungslos überfordert

Auszugehen ist auch davon, dass die Rekrutierung von Tätern in armen Ländern leichter fällt. Dazu passt das demografische Muster in diesen Staaten mit einer sehr hohen Geburtenrate. Das bedeutet, dass die Konkurrenz vor allem junger Männer um die nur sehr begrenzt vorhandene Arbeit immer größer wird. Dieser Effekt wird durch die zunehmende Verstädterung noch verstärkt. In manchen arabischen Ländern lebt nahezu die Hälfte der Menschen in Großstädten, die ein enormes Wachstum aufweisen. Die Kommunen sind mit dieser Entwicklung hoffnungslos überfordert – es gibt in manchen Vierteln kein sauberes Wasser, keine Elektrizität, keine Ordnungsmacht.

Auf diese Weise wird der Nährboden für die Unzufriedenheit gelegt. Die Wissenschaft beschreibt den weiteren Weg in den Terrorismus dann als Gefühl der „relativen Deprivation“. Will sagen: die Akteure orientieren sich in ihrem Handeln an subjektiv gezogenen Vergleichen. Das heißt, dass sich die jungen Männer als Muslime verstehen und sich als Gruppe vom erfolgreichen Westen und dessen sich ausbreitenden Werten bedrängt und dadurch benachteiligt fühlen.

In diesem Sinne verfolgen Terroristen keine personenbezogenen Attentate, sondern ihre Opfer stehen für den Westen. Deshalb wird auch das Töten von Muslimen in Kauf genommen, die als Helfer des Systems hingestellt werden, das man mit den Attentaten attackiert.

Anschlag auf die Redaktion des Magazins „Charlie Hebdo“

Wichtig für diesen transnationalen Terrorkampf ist, dass der Islam insgesamt immer wieder in eine sozialkulturelle Oppositionsstellung zum christlich orientierten Westen gebracht wird. In dieses Schema passt zuletzt auch der blutige Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ in Paris, das mit seinen Mohammed-Karikaturen den Islam beleidigt habe.

In ihrem globalen Kampf haben Al-Kaida und ähnliche Gruppen inzwischen eine entscheidende Entwicklung durchgemacht: die Individualisierung des Terrorismus. Das heißt, dass die Weltanschauung kollektivistisch bleibt, sich die jungen Muslime aber je nach Situation „ihren eigenen Dschihad zusammenbasteln“, schreibt der Terrorexperte Elmar Teveßen. Al-Kaida hat sich auch wegen der gezielten – und offensichtlich wirksamen - Schläge der USA von einer hierarchisch strukturierten Organisation in ein dezentrales Terrornetzwerk verwandelt. Die ideologischen und handlungspraktischen Anleitungen beziehen die Täter über das Internet. Die neue Form des Terroristen ist ein Mensch, der sich seine Weltanschauung selbst zusammenbastelt und die Anschläge logistisch und operativ selbstständig durchführt. Das große Problem ist: solche Anschläge von scheinbar integrierten und angepassten Bürgern sind kaum zu vereiteln. Egal ob sie von Islamisten wie Mohammed Atta oder Rechtsradikalen wie Anders Breivig verübt werden.