Das Bundesverfassungsgericht hat den Atomausstieg für zulässig erklärt. Gleichwohl haben Energiekonzerne Anspruch auf Entschädigung. Manche Meiler könnten länger laufen als geplant, auch über das Jahr 2022 hinaus.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Karlsruhe - Fast eineinhalb Stunden haben Ferdinand Kirchhof und Michael Eichberger aus der Urteilsbegründung vorgelesen – und doch nur eine kurze Zusammenfassung dessen präsentiert, was der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden hat. Der Vizepräsident des Gerichts, der Berichterstatter im Falle des Atomausstieges und ihre sechs Richterkollegen waren gerade hinter der holzvertäfelten Wand des Sitzungssaals verschwunden, da hob im Saal die Interpretation dessen an, was die Beteiligten gehört hatten. Mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten.

 

Oliver Krischer, der für die Grünen im Bundestag sitzt, spricht von einem „großen Erfolg“. Endlich habe das Verfassungsgericht festgestellt, dass der Atomausstieg rechtens und mit dem Grundgesetz vereinbar war. Rupert Scholz, ehemals Verteidigungsminister und nun für den Energieversorger Eon als Anwalt tätig, spricht ebenfalls davon, „einen Erfolg erzielt“ zu haben. Es gelte zu prüfen, in welcher Höhe Ausgleichsforderungen bestehen.

Defizite in Randbereichen

Einen Hinweis darauf, wie die Entscheidung letztlich zu bewerten ist, gibt das Verfassungsgericht selbst. Im Wesentlichen sei die 13. Novelle des Atomgesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar. Die gleichwohl festgestellten Verfassungsverstöße berühren nach Ansicht des Gerichts nicht den Kern des Gesetzes, nämlich den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie. „Die Defizite sind zwar nicht unerheblich, betreffen jedoch gemessen an der Gesamtregelung nur Randbereiche“, so die Richter. Hätte die Atomindustrie in vollem Maße obsiegt, wären Schadenersatzforderungen im zweistelligen Milliardenbereich auf dem Tisch gewesen. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Freilich können auch „Randbereiche“ einen beachtlichen Stellenwert haben.

Konkret dürfen die Energieversorger in zwei Feldern auf eine Entschädigung hoffen. Soweit die 2011 eingeführten Abschaltfristen dazu führen, dass sie die im Jahre 2002 zugeteilten Strommengen nicht mehr in konzerneigenen Kraftwerken produzieren können, haben sie einen Anspruch auf einen Ausgleich. Das trifft allerdings nur auf die Unternehmen RWE und Vattenfall zu. Eon und die EnBW (die nicht am nun entschiedenen Verfahren beteiligt war) haben im Gegensatz dazu nicht nur Kapazitäten, die eigenen, zugeteilten Strommengen zu verarbeiten – sie können auch noch von den beiden Mitanbietern hinzukaufen. Und für alle Atomkonzerne gilt: Für sogenannte frustrierte Aufwendungen, das heißt für Investitionen, die im Glauben an den Weiterbetrieb der Kraftwerke getätigt wurden, gibt es ebenfalls einen Ersatzanspruch.

Ansprüche mit einem Pferdefuß

Für die Atomkonzerne haben beide Ansprüche einen Pferdefuß. Der Zeitraum, den das Verfassungsgericht im Falle der frustrierten Aufwendungen zugrunde legt, ist ein kurzer. Zwischen Dezember 2010 und März 2011 müssen die Entscheidungen getroffen worden sein. Am 8. Dezember 2010 hatte der Bundestag die Rücknahme des Atomausstiegs beschlossen, am 16. März 2011 hatte das Umweltministerium nach dem Unglück von Fukushima ein Atommoratorium verhängt. Die Kraftwerkbetreiber hatten während der Verhandlung im März argumentiert gehabt, schon länger in den Fortbestand der Kraftwerke vertraut zu haben. Diese Sichtweise lehnt das Gericht ab. Die Betreiber müssen nun neu rechnen.

Auch bei der Kompensation der Strommengen werden Vatenfall und RWE eher keine Milliarden überwiesen bekommen. Das Verfassungsgericht weist ausdrücklich darauf hin, dass ein finanzieller Ausgleich „nicht zwingend dem vollen Wertersatz“ entsprechen muss – und nennt zudem weitere Möglichkeiten, die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen, um den Ansprüchen des Gerichts zu genügen. Auch eine „entsprechende Verlängerung der Laufzeiten einzelner konzerneigener Kraftwerke“ sei denkbar. Bisher galt das Jahr 2022 als finales Ende des deutschen Atomstroms. Das könnte nun wieder zur Disposition stehen. Zudem gibt es eine dritte Möglichkeit, aus Sicht der Bundesregierung ist dies wohl die charmanteste: ein Übertrag an Elektrizitätsmengen an andere Konzerne zu „ökonomisch zumutbaren Bedingungen“.

Rückendeckung für die Regierung

Sehr klar geben die Verfassungsrichter der Bundesregierung zudem Rückendeckung bei der Frage, ob sie nach dem Reaktorunglück von Fukushima den Atomausstieg beschließen durfte, auch wenn Vergleichbares nicht in Deutschland passieren könne. Der Atomausstieg sei ein „legitimes Regierungsziel“, so die Richter. Ob und wie eine Hochrisikotechnologie wie die friedliche Nutzung der Atomkraft zugelassen werde, hänge zudem auch von deren „Akzeptanz in der Gesellschaft“ ab. Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Punkt: Sehr ausführlich begründet der erste Senat, warum er im Atomausstieg keine Enteignung sieht, die in voller Höhe entschädigt werden müsste. Lediglich eine Einschränkung des Eigentums erkennt der Senat in den beiden Teilbereichen. Der Bund muss nun nachbessern, er hat dafür bis 2018 Zeit.