Roger Federer ist verletzt – und wird bei den US Open in New York schmerzlich vermisst. Eine Hommage an den großen Tennis-Zauberer.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Vor zehn Jahren gab es „Play“ noch, eine Sportbeilage der „New York Times“. In der standen Aufsätze, die sonst nirgendwo auftauchten, zum Beispiel einer des Schriftstellers David Foster Wallace. Er hieß „Roger Federer as Religious Experience“, und als er erschien, werden nicht wenige Menschen durch die Zähne gepfiffen und gedacht haben: Uijuijui. Wenn das nicht mal schwer übertrieben ist. Federer als religiöse Erfahrung. . .

 

Im Text selber stand das mit der „religiösen Erfahrung“ in Anführungszeichen, aber Wallace, der Autor von „Infinite Jest“ (Unendlicher Spaß) wusste natürlich, wovon er sprach: in seinen Jugendjahren auf der High School hatte er selber gespielt und schaffte es vor seiner Schriftstellerkarriere relativ weit hinauf in den Ranglisten, obwohl er sich selber als „ziemlich unbegabt“ empfand. Tatsächlich hatte Wallace, Jahrgang 1962 und später bis zu seinem Tod 2008 schwer von Depressionen geplagt, ein relativ untrügliches Gespür für die Raumverhältnisse auf dem Platz und zeigte sich insofern Roger Federer verwandt. Nebenbei war er ein Andre Agassi vor der Zeit: trug (in den Siebzigern!) Bandanas, bunte Schnürsenkel und ausgefranste T-Shirts, während der Rest der Tenniswelt, nicht nur in Wimbledon, noch dem Sport mit Auftritten ganz in Weiß huldigte.

Bei den Spielen in Flushing Meadows zeigt sich, wie sehr Roger Federer fehlt

Man liest den Aufsatz, was für dessen zeitlose Güte spricht, heute nicht viel anders als damals, obwohl sich, von Wallace’ Selbstmord abgesehen, auch sonst allerhand geändert hat seit 2006: Statt 44 Turniersiegen und neun Grand Slams stehen für Federer, nunmehr 35 Jahre alt (und mithin ein Großvater in seinem Gewerbe), 88 Siege und 17 Grand Slams zu Buche. Zudem ist er Vater von gleich zwei Zwillingspärchen: Mädchen 2009, Buben 2014. Aber er ist nicht mehr die Nummer eins der Tenniswelt, und weil er – zum ersten Mal in seiner Karriere – eine richtige (Knie-)Verletzung auskurieren muss, wird er dies auch so bald nicht mehr werden. Bei den US Open jedenfalls fehlt er, wie bereits bei Olympia in Rio – und wie er fehlt, erkennt man gerade besonders, wenn man a) derzeit ein wenig die Männerpartien in Flushing Meadows verfolgt und b) den Essay von David Foster Wallace noch einmal liest.

Ausgangspunkt für Wallace ist eine Szene im vierten Satz des US-Open-Endspiels zwischen Federer und Andre Agassi von 2004, in dem Agassi (selber damals 35 Jahre alt), seinen Kontrahenten einmal buchstäblich auf dem falschen Fuß erwischt. Federer gleicht den Moment dadurch aus, dass er „drei, vier unglaublich schnelle Schritte“ zurück macht und auf „Umkehrschub“ schaltet (Wallace).

Leider sind auch Halbgötter verletzlich und überschreiten ihren Zenit

Aus der Rückhandecke passiert die Vorhand den perplexen Agassi, und der noch perplexere John McEnroe (vormals von Agassi abgelöst) ruft als Fernseh-Kommentator: „Wie kann man aus einer solchen Position heraus einen solchen Ball schlagen?“ Und allerdings: minimale Aufs und Abs ausgenommen, ist das fast ein Jahrzehnt lang die Frage gewesen, wenn der große Zauberer Federer spielte: Wallace nannte dieses Spiel „kinetische Schönheit“ und „Poesie in Bewegung“. Und sah, Summa summarum, etwas wie Transzendenz walten. Dass, ausgerechnet, ein banaler Badeunfall (Vater rennt Töchtern beim Schwimmen hinterher, Vater rutscht aus, Vaters Knie macht „Klirr“), diese sagenhafte Karriere zurzeit unterbricht, passt eigentlich nicht ins Bild. Oder eben doch. Auch Halbgötter sind verletzlich, werden älter und überschreiten ihren Zenit.

Aber Federer fehlt.

In New York ist Roger Federer nur in der Werbung präsent

In New York wird das unter anderem dadurch deutlich, dass statt Federers – sagen wir, wie es ist – Genie nun wieder die mehr oder minder reinen Kampfmaschinen (Andy Murray, Rafael Nadal, Novak Djokovic) dominieren, während noch jüngere und noch körperbetontere Kampfmaschinen nachdrängen. Und auch wo partiell mehr Spielintelligenz als Körperbetontheit beteiligt ist: eine stilistisch schwer zu überbietende einhändige Rückhand wie die von Stan Wawrinka macht allein noch keinen Künstler aus.

Federer indes hat längst bemerkt, dass er sich in einer anderen Phase befindet, wo er die – wiederum ästhetisch gesehen – Dramen auf dem Platz nicht mehr ganz so oft nach seinem Wünschen und Vorstellungen gestalten kann. Er ist, wie Agassi in seiner Endphase, dazu übergegangen, Gastspiele zu dosieren. Die Verletzung tut jetzt ihr Übriges. Federer aber wäre nicht Federer, wenn er es nicht auch als Abwesender schaffte, einen besonderen Schatten zu werfen, zumindest als werbetechnische Ikone, die er ja trotz ein wenig peinlicher Demonstrationen als Luxusuhrenträger eben auch ist: Eleganz (mit fast arroganter, zumindest leicht blasierter Begleitnote) war ihm niemals abzusprechen.

Streng gescheitelt taucht Federer an der Seite der Legende Rod Laver auf

Federers Fehlen bei den US Open kompensiert der Mercedes-Konzern zurzeit damit, dass er ihn – in Analogie zu David Foster Wallace Porträt eines Überirdischen - als Überzeitlichen zeigt. Wie der Filmemacher Robert Zemecki die Figur Forrest Gump einst durch die US-Geschichte hindurch deklinierte, taucht Federer in tennishistorischen Situationen auf, die er nur vom Hörensagen kennen kann: streng gescheitelt an der Seite der australischen Legende Rod Laver, als noch Holzschläger und schwarz-weiß-Optik en vogue waren; aber auch als Inkarnation des Bad Boy à la John McEnroe, der munter mit dem Racket abräumt, was ihm auf die Nerven geht. Trotz Perücken, ausgestellter Brustbehaarung und Massivbart bleibt Federer Federer, wie das zu bewerbende Auto in Sichtweite das Auto bleibt. Soviel zur Marketingstrategie.

Das Ganze zeigt aber auch eine angenehm alberne bis abgedrehte Seite an diesem Tennisspieler, die er sich bisher nicht zu demonstrieren gestattet hat. Und, Werbung hin, Werbung her: die Szenen markieren lebensdramaturgisch einen Einschnitt – der Schritt vom führenden Tragöden zum weisen Komödianten auf der Sportbühne ist ein großer. Schon immer hat Roger Federer in entscheidenden Momenten feinsinnig gelächelt. Nun lacht er, auch über sich selbst. So gesehen bleibt er, wiewohl sterblich wie wir alle: einzigartig.