Die USA wissen Dank ihrer Nachrichtendienste bestens Bescheid über eigentlich geheime Überlegungen in der Bundesregierung – auch die von Kanzlerin Angela Merkel.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Der aktuelle Verfassungsschutzbericht ist noch druckfrisch. Am Dienstag wurde er veröffentlicht. In dem 266 Seiten dicken Buch finden sich auch 20 Seiten zur Spionage. Als „Hauptträger der gegen Deutschland gerichteten Spionageaktivitäten“ werden dort Russland, China und der Iran benannt. Die National Security Agency (NSA) kommt in dem Bericht nur am Rande vor. Auf die Frage nach einschlägiger Wühlarbeit des amerikanischen Geheimdienstes versicherte Hans-Georg Maaßen, Chef des für die Spionageabwehr zuständigen Bundesamtes für Verfassungsschutz: „Dafür haben wir keine Anhaltspunkte.“

 

Anhaltspunkte zuhauf liefert ihm jetzt die Internetplattform Wikileaks. Sie veröffentlicht Dokumente, die belegen sollen, dass die NSA die deutsche Regierung auf breiter Front über viele Jahre bespitzelt hat. Die Belege erscheinen plausibel. Es ist allerdings unklar, aus welcher Quelle sie stammen und ob es sich dabei tatsächlich um Originaldokumente handelt.

Die anonymen Enthüller zeigen auf ihrer Homepage eine Liste mit 69 Telefonnummern, die allesamt Anschlüsse der Bundesregierung betreffen. Zudem finden sich bei Wikileaks zwei angebliche Abhörprotokolle der NSA und des britischen Geheimdienstes GCHQ. Sie sollen zeigen, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre wichtigsten Berater bespitzelt wurden. In einem Fall handelt es sich nach Wikileaks-Darstellung um die Mitschrift eines privaten Gesprächs der Kanzlerin mit einem persönlichen Assistenten. Das andere Protokoll betrifft den Leiter der Europa-Abteilung im Kanzleramt, Nikolaus Meyer-Landrut. In beiden Fällen geht es um vertrauliche Erörterungen zur Haltung der deutschen Regierung in der Griechenland-Krise. Die Abhörprotokolle sollen aus dem Jahr 2011 stammen. Die NSA habe sie „zwei Stufen über streng geheim“ klassifiziert, so berichtet Wikileaks.

Auch Lafontaine stand auf der US-Liste

Neben Merkel und ihren engsten Beratern hatte der US-Geheimdienst den Wikileaks-Dokumenten zufolge zahlreiche Spitzenvertreter der Bundesregierung im Visier. Unter anderem steht der zeitweilige SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine auf der Liste der Zielpersonen sowie Werner Müller, Wirtschaftsminister von 1998 bis 2002, und die seinerzeitige Finanz-Staatssekretärin Barbara Hendricks. Sie ist inzwischen Umweltministerin. Die NSA-Liste umfasst zudem Nummern der Telefonzentralen und der Faxgeräte in Schlüsselministerien. Auch ein Anschluss der Europäischen Zentralbank ist aufgeführt. Wikileaks-Herausgeber Julian Assange sagt, die neue Enthüllung „demonstriert die Wirtschaftsspionage der USA gegen gegen Deutschland und EU-Schlüsselinstitutionen“.

Im Oktober 2013 gab es Berichte, wonach Merkels Handy abgehört worden sei. Nach einigem Zögern leitete der Generalbundesanwalt Ermittlungen ein. Er fand aber nach eigenem Bekunden „keinen zu einer Anklage führenden Beweis dafür, dass Verbindungsdaten erfasst oder ein Telefonat der Bundeskanzlerin abgehört wurden“. Bereits im Zusammenhang mit der Handy-Affäre hatte die „New York Times“ berichtet, dass der US-Geheimdienst nicht nur die Kanzlerin, sondern den gesamten Berliner Politikbetrieb bespitzelt habe – inklusive ranghoher deutscher Beamter.

Hier lauscht die NSA ohne Hilfe des BND

Als Indiz dafür wertet Christian Flisek, SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, auch den Fall Vorbeck: Da geht es um einen leitenden Beamten im Kanzleramt, der angeblich aus der Geheimdienst-Abteilung ins Archiv versetzt wurde, weil er Interna ausgeplaudert haben soll. Pikant daran: Quelle soll die NSA gewesen sein. Wenn das stimmt, was die Zeitung „Bild am Sonntag“ über den Fall berichtet hat, dann müsste der US-Geheimdienst 2011 sehr detailliert über die Verhältnisse in der deutschen Regierungszentrale Bescheid gewusst haben.

Der NSA-Untersuchungsausschuss befasst sich seit Monaten mit Abhöraktionen, bei denen der Bundesnachrichtendienst (BND) die US-Kollegen beim Spionieren unterstützt haben soll. Dabei ging es jedoch um das gezielte Sammeln von Verbindungsdaten – nicht um das Abhören der Gespräche selbst wie im Fall der jetzt publizierten Protokolle. Diesen Lauschangriff hat die NSA offenbar ohne BND-Hilfe abgewickelt. Dazu bedarf es aufwendiger Technik – und entsprechender Installationen auf deutschem Boden. Der Straftatbestand der Spionage wäre damit erfüllt.